Video Natalia Mikhaylova
Wo:Albrechtstraße 24, 10117 Berlin
Wann:Dienstag, 28.09.2021, 18:00

Tom Schulz

Stolpersteine · Fünf Gedichte · Gespräch





Stolperstein in der Albrechtstraße 24

Ella Friedländer kam am 19. November 1886 in Rixdorf / Berlin als Tochter der jüdischen Eltern Louis Samuel Friedländer und Emma geborene Neumann auf die Welt. Sie wurde Schauspielerin und spielte unter dem Künstlernamen Ella Feldner auf kleineren deutschsprachigen Bühnen in der Rolle der sentimentalen Liebhaberin. Sie heiratete den Schauspieler Josef Czikanek (geboren 15. Februar 1883 in Wien, gestorben 22. September 1963 in Berlin). Der Sohn Franz wurde am 22. Juni 1911 geboren.

Die Familie nahm 1922 den Künstlernamen Karma an, zog nach Berlin und wohnte in der Martin-Luther-Straße 43. 1930 wurde die Ehe von Ella und Josef Karma geschieden. Ella Karma wohnte von 1934 an in der Albrechtstraße 24 in Berlin-Mitte und vermietete von 1935 bis 1938 Zimmer. Sie war Agentin für Schauspieler und Tänzer und leitete ein Ballett, das im Café Fandango auftrat.

Am 18. November 1938 musste sie ausziehen und nach Friedenau in die Wielandstraße 27 als Untermieterin zu ihrer Freundin Orla Rendler und deren Mann Alfred ziehen. Ihr Sohn Franz war Redakteur und mit Hilde Rake befreundet, die später Hans Coppi heiratete, mit diesem im Widerstand tätig war, verurteilt und hingerichtet wurde. Franz Karma emigrierte 1939 nach Dänemark und Schweden. 1939 meldete sich Ella Karma als Untermieterin bei Max Riess in der Krausnickstr. 6 an. Dort lebte sie offiziell bis Februar 1943, danach hielt sie sich illegal in Berlin auf. Sie war eine Zeit lang Leiterin einer jüdischen Reformküche, in der für viele bedürftige Berliner Juden gekocht wurde. Bei einem Fluchtversuch in die Schweiz wurde sie verhaftet und zurück nach Berlin gebracht. Am 8. Juni 1944 musste sie die Vermögenserklärung ausfüllen. Sie wohnte alleine in einem möblierten Zimmer, außer diverser Damenkleidung besaß sie nichts mehr. Die Vermögensbeschlagnahme wurde ihr in der Sammelstelle Schulstraße 78 im Wedding zugestellt.

Von dort wurde sie am 15. Juni 1944 mit dem 54. Transport in das KZ Auschwitz deportiert. Auf der Transportliste wurde ihr Beruf mit Wirtschaftsleiterin angegeben. Sie erlebte in Auschwitz die Befreiung des Konzentrationslagers am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee, starb jedoch am 26. März 1945 im Lazarett des Polnischen Roten Kreuzes im ehemaligen Stammlager Auschwitz an Lungentuberkulose. Der Sohn Franz kehrte 1946 aus Schweden nach Berlin zurück, heiratete und bekam Kinder, die heute in Berlin leben.

Quelle Wikipedia

Fünf Gedichte von Tom Schulz


Die Gedichte „Die Verlegung der Stolpersteine“, „Celan auf Esperanto“, „Siebter Stolperstein“, „Die Menschenfabrik“ und  „Erster Stolperstein“ stammen aus dem Gedichtband „Die Verlegung der Stolpersteine“ (Hanser Berlin 2017)


The end is where we start from.
T. S. Eliot

Die Verlegung der Stolpersteine

Hier war das Reich, groß
und golden
An dieser Stelle floss Blut, das Säuische
schwamm oben, Schloss Gripsholm
brannte nicht, in meinem Dörfchen
wo Großvater den Karnickeldraht band
Während wir uns völkisch
beobachteten, einander mutig
ins Auge fassten, waren es Gaue mit Blumen
Kästen voll Geranien
Mit dem Kreuz, dem Schwert
mit der Rune im Bett
konnten wir die Blutgruppe bestimmen
Wer war das Volk und das Land
der Bund und das Mädchen
der gewickelte Hans mit schiefen Zähnen
der Bolzen, der Schuss und der Hänfling
Hier floss das Blut nur so
im Sprachgebrauch der Demagogen:
Du warst Quax und salbtest
die ausgetretene Hülse am Kopf
Heinz war Gustav, Ernst war Herbert
Leni war Eva und Inge
Ich lag auf der Chaiselongue und hörte
die Mondschein-Sonate
Wilhelm Backhaus, der sagte
alle sieben Jahre wirft der Mensch
seine Haut ab
ändert die Farbe des Bluts
Aber jetzt
an dieser Stelle wächst ein Stein
aus dem Boden, ein Stein
der weiß, der spricht


Celan auf Esperanto

Das Haus der Sprache, wie viele Türen hat es? Wie viele Fenster.
Tragende Wände. Die Statik haben wir errechnet. Nichts, was
schwankt. Und die Fluchten? Der Ausgang, die Brandschutztür.
Du weißt, wenn ich spreche, spricht der Schwamm. Die Fliege
taucht in Essig. Ein Löffel Zucker. Ich höre deine Stimme, sie ist
ganz nah. Du kommst mit dem Sprachen-Babel. Mit deinem
Plapperbecher. Es babelt und babbelt. Das Haus der Sprache,
wie viele Keller hat es? Schwimmender Estrich und Innen-Asphalt.
Alles erhärtet und kalt. Die Übersetzung läuft mit: Untertitel und
Braille. Du weißt, wenn ich spreche, rede ich vom Fertighaus der
Sprache. Wie viele Erker liegen hinter den Fenstern? Der Balkon,
über die Balustrade hinaus. Das verbotene Zimmer und eine Trennwand.
Die Platten aus Rigips. Dämmstoffe, fein geschluckter Schall.
Das Haus der Sprache mit einer Tür ohne Klinke? Mit Fenstern ohne
Haltegriff. Ich höre deine Stimme, ich mache dir das Schweigen.
Mein Freund, der Esperant, babelt und sammelt die Toten. In einer
Sprache, die niemand versteht. Komm ins Haus der Sprache.
Lass uns nächtigen unter dem Treppenabsatz. Ich hör deine Stimme
von fern, ich mach dir das Schweigen. Es steht schon länger zum
Verkauf. Die Makler fordern den Zinseszins. Mein Freund spricht
von den Schlangen. Schlingen im Wasser. Ich hör deine Stimme
nicht mehr. Wie viele Stufen und Stiegen führen hinab? Das Haus
der Sprache ist ein verwilderter Garten. Wer tot ist, redet noch
weiter? Mein Freund spricht im Schlaf oder Tod. Schlag beide
Scheiben ein mit dem Notfall-Hammer. Folge den Schildern, den
Piktogrammen. Am Ende des Flures, vor der Abstellkammer, liegt
eine schwarze Katze. Wir begegnen uns in Durchgangszimmern.
Wir halten eine Klinke in der Hand.


Siebter Stolperstein

Mit der Schaufel das Licht. Wovon wissen wir nichts. Hier steigen
wir aus. An einem Ort. Um ihn zu finden, müsste man eine Pinzette
zwischen die Finger nehmen. Doch wir kennen ihn seit den ersten
Schritten, die wir als Kleinkind machten. Wir treten über die Gleise,
dies ist die Abkürzung. Der Pfad. Huschen hinüber zu den Bäumen.
Laufen die Allee entlang. Wir erkennen den Weg: zum Haus, zum
Garten. Zu den Nachtschattengewächsen, die wir bald ernten.
Zur Hecke, zur Beere, zum Hund. Aus einiger Entfernung können
wir das Ziel ausmachen. Ob Großmutter noch lebt? Unsere Schritte
greifen weiter. Vorbei am Gras, den Nachbargärten. Kürbisse,
Kompost. Rhabarber, Rhabarber. Auswendig wissen wir die Steine,
die aus der Erde schief herausgewachsen sind. Die Katzenköpfe,
hell und warm. Wir wissen den Weg, von wem, von wem nicht
und wohin führt er? Gegen das Nichts stellen wir die Leiter in den
Kirschbaum. Klettern in die Äste. Zu den Blättern, die uns Schutz
gewährten. Wir sehen die Früchte in unseren Händen reifen.
Sie reiften vorher schon. Wir gaben ihnen Wochen. Sie wenden
sich uns zu. Wie viele Sommer sahen uns mit Kinderaugen an?
Wie viele Male blinzelte etwas, blinkte hinter dem Feldrain, am
Wiesengrund, vor der Waldzunge. Wir legten den Lenker ins Gras,
rannten zu den Blaubeersträuchern. Wie viele Sommer gehören
den Lebenden? Wir stellen die Leiter in die Scheune. Es gibt den
Kuhstall in der Erinnerung: wir selbst, ganz klein vor großen Tieren.
Es gibt den Kuhstall, nicht das Nichts. Den Heuboden, den Schlaf,
die Träume. Das Erwachen. Woher wissen wir, von wem nichts?
Aus den Fugen brechen Halm und Löwenzahn, Distel und Farn
auf einem Kleinstadtbahnhof. Unkraut, geheiligt sei dein Name.
Wildgräser, Sträucher. Dafür oder dagegen blühn.


Die Menschenfabrik

Die Fabrik ist ein Segen. Kinder, spannt die Schirme auf. Es wird
Geld regnen. Ein bisschen Manchester, Arbeit für alle. Frei für den
Kirchgang am Sonntag. Ein bisschen Akkord und Steine stapeln.
Knochen stramm und am letzten der Lohn. Ein bisschen wie der
Herr so die Herde. Wie der Hund so der Stiefel. Eine Prise
getrockneter Schweiß und etwas im Strumpf. Eine Prise Nutznießen
und niemand, der stempelt. Kinder, lasst es euch nicht verdrießen.
Fällt einer um, gehört er zu den Fliegen. Fällt einer in den Graben,
fressen ihn die Raben. Liegt einer in der Grube, legt sich ein anderer
darüber. Wir löschen mit Kalk und schreiben tief schwarze Zahlen.
Unsere Fabrik ist ein Segen. Nimmt der Herr den Gewinn, gibt uns
Almosen. Wir nehmen es hin. Die Bänder rollen, die Züge fahren
in die Nacht. Wie der Herr so die Maschine. Wie die Haut so der
Abrieb. Der Schrieb mit den Transporten. Die Fremden sind Polen
und Russen, Zigeuner. Wer weiß. Auch Frauen mit kahlen Köpfen.
Was geht es den Hund an? Am Sonntag singt man uns. Wir, mit den
Psalmen aus dem schwarzen Testament. Unsere Menschenfabrik
fordert Opfer. Was geht es den Hund an, den Stiefel. Wir weinen
heimlich, allein. In den Gebeten stehen wir auf und erheben uns.
Es heißt, den Zehnten zu geben für ein Grab mit Stein und Namen.
Wir löschen mit Kalk. Und sie wuchert und wächst wie die Pest.
Unsere Fabrik ist ein Segen, sie spendet und sendet. Gott, schütze
uns. Im Namen von IG Farben. Im Namen von Bayer Monowitz.


Erster Stolperstein

Der siebte Tag schöpfte das Wasser
der sechste setzte Seerosen, Algen und Schilf hinein
als der fünfte Tag in die Binsen ging
war der vierte am Leben, ein zappelnder Barsch
der dritte wusste nicht, was nach oben gelangte
er rief den zweiten zu sich, der das Fließen lehrte
der erste war einzig allein
der Grund


Tom Schulz im Gespräch mit Boris Schumatsky

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