Video Natalia Mikhaylova
Wo:Schwedter Str. 22, 10119 Berlin
Wann:Montag, 05.09.2022, 19:00

Yevgeniy Breyger

Stolpersteine in der Schwedter Str. 22

Netty Isak (geb. Gehl), *15.04.1893 in Tarnów, Polen, zog 1910 mit ihrem Mann Ignatz Jacob Isak,*15.01.1882 auch in Tarnów, und ihrer Tochter Erna nach Berlin, wo Isak ein Lebensmittelgeschäft eröffnete, das „Isak’s Grocery“. 1914 kam ihr Sohn Sigfried, genannt Sigi, zur Welt, und 1919 die Tochter Ruth. Ruth erzählte über das Familiengeschäft, dass es „außer Kolonialwaren auch ausländische und inländische Weine gab, ebenso führte es Lebensmittel aller Art. Er hat auch größere Quanten an bekannte Hotels und Restaurants geliefert.“ Sigi Isak beschreibt seine Familie als konservativ. Sie besuchte zwar die Synagoge, aber er kann sie nicht als religiös bezeichnen. Sie beging die jüdischen Feiertage, ernährte sich koscher und feierte „Bar Mitzwa“. Das familiäre Verhältnis beschreibt er als sehr eng.

Sigi, der erste von links © Familienarchiv Sigfried Isak

Während der Pogromnacht wurde „Isak’s Grocery“ zerstört. Ignatz Isak wurde im Rahmen der „Zweiten Polenaktion“ nach dem Erlass von Reinhard Heydrich im September 1939 von der Gestapo verhaftet und ins KZ Oranienburg gebracht. Am 11. Februar 1940 wurde er im KZ Sachsenhausen ermordet. Nachdem Netti Isak die Asche ihres Mannes beigesetzt hatte, verließ sie Berlin im Jahr 1941. Den Interviews von Sigi Isak und seiner eidesstaatlichen Erklärung in den Entschädigungsakten zufolge, begab sie sich freiwillig nach Bochnia zu ihrem Sohn Sigi. Gleichzeitig gibt es aber in den Entschädigungsakten einen Vermerk, dass sie deportiert wurde. Netti Isak war ungefähr ein Jahr zusammen mit ihrem Sohn, bis sie im Juli 1942 mit 800 000 anderen Juden deportiert wurde. Danach gibt es von ihr kein Lebenszeichen mehr. Ihr Todeszeitpunkt wurde vom Entschädigungsamt auf den 31. Juli 1942 datiert.

Olga Meleshkevich und Anastasia Cherkasskaya Quelle

Ihr Sohn Sigi, Sigfried, *05.07.1914 in Berlin, ging auf eine Wirtschaftsschule, die er nach Hitlers Machtantritt nicht mehr abschließen durfte. Sigi begann eine Ausbildung in einer jüdischen Druckerei, und 1937 beschloss er zu emigrieren. Weder die britische noch die amerikanische Botschaft wollte ihm helfen. Am 28. Oktober 1938 wurde gegen Sigfried Isak ein Aufenthaltsverbot für das Reichsgebiet vom Polizei-Präsidium Berlin erlassen. Er erzählte, dass er um vier Uhr morgens von der Polizei abgeholt und an die polnische Grenze gebracht wurde. Die polnischen Grenzsoldaten wollten die ausgewiesenen Juden jedoch nicht reinlassen. So mussten sie zwei Tage und zwei Nächte im Niemandsland in der bitteren Kälte verbringen: „ …it was bitter cold. It was October. It was cold like hell.“ Schließlich wurde den Männern die Einreise nach Polen bewilligt, allerdings mussten sie in der Grenzstadt Zbąszyń bleiben. Sieben Monate später durfte Sigi Isak für sieben Tage nach Berlin zurückkehren. Er durfte einen kleinen Koffer mit Kleidung mitnehmen und sollte danach wieder nach Polen einreisen.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war Sigi Isak in Bochnia, weil dort die Schwester seines Vaters wohnte. Hitlers Truppen überfielen Polen im Herbst 1939 und errichteten 1941 in Bochnia ein Ghetto. Anfangs wohnten dort 10 000 Juden. Sigi Isak berichtete, dass er dort im Straßenbau und in einem Munitionswerk arbeitete. Im Jahre 1943 heiratete Sigi Isak im Ghetto Bochnia seine Frau Rachela Strum.

Rachela, die Frau von Sigfried Isak © Familienarchiv Sigfried Isak

Das erste Konzentrationslager, wohin Sigi Isak und seine Frau im Februar 1944 verschleppt wurden, war Plaszow bei Krakau. Dort befanden sich etwa 60-80 000 Juden, die zehn bis zwölf Stunden pro Tag arbeiten mussten. Sigi Isak erwähnte, dass er dort die Nummer 11 360 bekam, welche bis 1945 seinen Namen ersetzte. Eines Tages im Oktober 1944 mussten die Gefangenen die Baracken verlassen. Sigi Isak wurde ins KZ Groß-Rosen nach Deutschland geschickt. Dort blieb er vier oder fünf Wochen und musste Steine schleppen. Nach fünf Wochen, also im November 1944, mussten die Baracken wieder verlassen werden und Sigi Isak wurde ins KZ Langenbielau gebracht. Dort blieb er fünf Monate, zusammen mit Tausenden anderen Juden, deren Aufgabe es war, Schützengräben auszuheben. Anfang Mai 1945 wurde das KZ Langenbielau durch die sowjetische Armee befreit.

Olga Meleshkevich und Anastasia Cherkasskaya Quelle

Gedichte von Yevgeniy Breyger

Die Gedichte „du musst das hören“, „schäm dich“ und „von ribbentrop meldet sich: warum!? warum immer die deutschen!? den schuh will ich mir nicht anziehen!“ erscheinen 2022 bei kookbooks. Das Gedicht „Königreich des weiten Wegs“ erschien im Gedichtband „Gestohlene Luft“ (kookbooks, 2020).

du musst das hören

charkiw soll evakuiert werden, weil die deutschen kommen
die ganze familie geht, bis auf Мина, Мина ist schwanger von Вася
der ist ukrainer und will sie beschützen, Familie geschockt
die deutschen kommen, Вася verrät sie und sie kommt nach Бабин Яр
mit den anderen jüd*innen, jaja, alte und junge
ihre nachbarin ist auch dabei, wie die hieß, weiß ich nicht
sie machen den plan, einen wärter zu bestechen und erzählen
wir sagen dir, wo unser gold versteckt ist, du holst es und lässt uns raus
der wärter findet das, kehrt wieder und lässt sie echt gehn
vielleicht weil frauen, schwanger und alt? wer weiß
er lässt sie jedenfalls in der nacht vor dem massenmord raus
die alte nachbarin und Мина überqueren den wald
kommen nachts zu einer lichtung vor einem dorf, mit dorfschild soundso
die alte sagt, warte lieber, ich schleich mich rein und kundschafte aus
nacht vergeht, Мина wartet, sonne geht langsam auf
Мина schleicht sich durchs gebüsch zum dorfrand und siehts
die nachbarin hängt aufgespießt an einem großen stamm
sie rennt also natürlich weg
rennt durch gebüsch und wald, hunger, angst ums kind im bauch, panik
kommt irgendwann im andren dorf an, wo sie eine ukrainerin kennt
beschließt, ich frage sie, ob ich mich da verstecken kann, was soll ich tun
die frau lässt sie rein und tatsächlich, ja
kommen die deutschen, sagt sie, Мина sei die tochter, ist eh blond
aber da ist das kind von Мина schon verloren, hats nicht überlebt
alles funktioniert so, bald wird charkiw zurückerobert von der roten armee
wer kommt wieder? Вася
Вася sagt, es tut ihm leid und sie nimmt ihn zurück, den hund
wird wieder schwanger, die deutschen kommen nochmal, Вася wieder weg
bleibt nichts, außer weiter verstecken und es geht gut
der krieg geht vorbei, das kind wird geboren (Люси), ziemlich kränklich
wiedervereinigung mit dem rest der familie
darunter meine oma Роза, ihre schwester
Мина lernt später einen juden kennen, heiratet
bekommt meine großtante Шура, die aber jünger ist als mein vater
Люси ist immer krank, ganz dünn, Шура dick und gesund, fröhlich
nun findet Люси irgendwann einen mann, macht mit ihm zwei kinder
Света und Виталик (mein Cousin, der jetzt hier ist)
die kinder sind noch ganz klein, da stirbt Люси
Шура muss da so 16 sein, aber ich müsst nochmal genauer nachfragen
jedenfalls nimmt Шура die kinder, zieht sie auf und macht keine eignen
damit sie sich bei ihr so wohl wie möglich fühlen, ist eh das gleiche
bald kommt raus, mit Света stimmt auch was nicht
kann mich an sie erinnern, war immer laut und fröhlich, ich mag sie extrem
organe sind wohl nicht richtig entwickelt, leber, herz, gebärmutter usw
Виталик ist in ordnung
als ich so 6 bin, ist geburtstag von Мина, die ist schon sehr alt, ganz dick
sitzt im sessel und brabbelt irgendwas, danach stirbt sie bald
Шура knutscht mich ab, liebt mich sehr und ich hab richtig spaß
meine eltern sind da, opa und oma, Света superfröhlich, isst torte
Виталик kommt nach und bringt Ира mit, wow
ich denk noch, schönstes mädchen, das ich je gesehn hab
bald heiraten sie und machen direkt ein kind, nämlich Лиза
Лиза ist ein tolles kind, aber von geburt an behindert
herzfehler, eine op nach der andren, die ganze zeit angst
plötzlich hat Света auch ein Kind, einen jungen, Максим
von nem alten alkoholiker, der sich von Шура aushalten lässt
Шура kümmert sich eh um alle, selbst als sie längst erwachsen sind
aber wie hat sie Максим bekommen, ich dachte das ging gar nicht?
nun ists aber so und mmmhhh, Света organversagen mit mitte 30
der junge nun auch zu Шура, die wie vielte generation ist das?
achja, mit Максим soll auch was nicht stimmen, was genetisches
ich skype aber manchmal mit Шура und sehe ihn, ganz toller junge
sieht mir ziemlich ähnlich, meint Angerona, da merk ichs dann auch
ich glaube, Шура ist sowas wie meine engste bezugsperson
in israel sag ich noch zu Angerona, im sommer müssen wir nach charkiw
ich stell dir Шура vor und zeig dir die stadt
dann kommt aber corona und wir können nicht fahren
ich hab Шура ewig nicht gesehn, seit 20 jahren jetzt!
aber ich lieb sie trotzdem sehr
naja, dann kommts so: der alte alkoholiker, der vater von Максим, corona
Шура auch corona, beide im krankenhaus
beim alten vergessen sie nachts das atemgerät anzumachen und er stirbt
ich sprech noch mit Шура bei viber, merk, ihr geht’s geistig extrem schlimm
Виталик berichtet dann, sie ist nicht mehr richtig da, erzählt quatsch
aus dem krankenhaus wollen sie sie raushaben, werte ok
sie kämpft aber, hat jetzt angst, atemmaske abzunehmen, schlägt um sich
irgendwann kriegen sie sie doch raus und sie kommt heim
ihre beine tun aber richtig weh, sie sagt, sie stirbt bald
dann anruf von meiner mutter
„Женя, сейчас спокойно, не надо паники, Шура умерла“
(Женя, jetzt keine Panik, Шура ist gestorben)
meine mutter fängt an zu heulen (oder besser zu weinen, aber sehr)
ich leg also auf
sitze auf dem bett
leg mich quer hin
im kopf dieses brummen wie starkstromleitung
Angerona kommt und fragt, ich kann aber nichts sagen
sie sitzt bei mir, hält meine hand und ich hab zum zweiten mal –
zum zweiten mal im leben das gefühl, ich drift weg, komm nie mehr zurück
dann irgendwie zu zweit am küchentisch, haben was in den tellern
ich versuch normal zu tun, versuch, nicht seltsam zu wirken
versuch, dass Angerona nicht denkt, ich würd schauspielern
hab die hände nicht unter kontrolle
was ist denn das? hab mega angst, dass mit mir was nicht stimmt
dann kommts aus mir raus: „das hat mich grad wirklich gefickt“
und was ist das für eine sprache? ich sag nie sowas! klingt das echt?
Angerona guckt mich an und stellt sich bestimmt die gleichen fragen wie ich
irgendwann fass ich mich und sie bringt mich nach draußen
ich konnt nichts essen, sie hofft, dass ich mit mc donalds abgelenkt werd
also dahin, dann irgendwie doch nicht, weiß nicht mehr, warum
ich glaub, ich hab angst, an das schauspiel zu glauben oder sowas
oder, dass Angerona dann denkt, es könnte mich wirklich aufheitern

gestern, als ich das schreibe, ist Шураs erster todestag
die woche in magdeburg mit eltern, Виталик, Ира, Лиза, Максим
genau, Максим hat dann ja niemanden mehr gehabt außer Виталик
der hat ihn adoptiert und es geht ihm da jetzt richtig gut
Angerona und ich haben auch überlegt, aber er kennt uns ja kaum
ich wollt eigentlich erzählen, nach Шураs tod pendelt sich die sache ein
sie haben 3 wohnungen, die von Шура, die eigne und die von Максимs vater
2 vermieten sie und haben das erste mal keine geldsorgen
erster urlaub, in ägypten!
Максим gibt mir einen flashdrive für den fernseher mit urlaubsfotos
die 4 sehen richtig glücklich aus, das macht mich froh
zum beispiel ist da ein video mit unterwassercam wie Ира fische füttert
sie hält ein brötchen hin und die fische schwärmen rein
dann kommt ein ganz großer dazu, sieht aus wie eine muräne
Ира sagt noch, wir sollen die zähne anschauen und zack
er beißt ihr natürlich in den finger
sie zeigt gleich die narbe, ich bin ehrlich echt beeindruckt
dann gucken wir noch ein video von Лизаs erstem schultag, abschlussjahr
wegen des kriegs sollte das abi für die geflüchteten online sein
jetzt gehts nicht mehr, dafür wohl an kooperierenden deutschen unis
sie sitzt immer son bisschen abseits, mehr innen als in der welt, gefällt mir!
6 monate ist der urlaub erst her und Максим ist richtig erwachsen geworden
Лиза mag ich total, extrem klug, ruhig, superhübsch auch
genau, jetzt sollte es richtig gut werden und dann natürlich der krieg
erst kommen sie zu viert nach magdeburg, Виталик fährt aber zurück
weil Ираs mutter und oma (95) aus charkiw nicht mitkommen können
und er will die kollegen nicht im stich lassen
arbeitet da für die stadtwerke, stromversorgung
nun werden die strommasten aber die ganze zeit beschossen
die klettern rauf zum reparieren
werden beschossen, klettern runter
wieder rauf, wieder das gleiche, und so weiter
jedenfalls finden sie dann leute, die sich um mutter und oma kümmern
er kann aber natürlich nicht mehr raus, obwohl er eh nicht an die front kann
er hatte vor nem jahr eine rücken-op und trägt korsett, schwierige sache
aber er ist der vormund von Максим
Ира und Максим fahren also zurück in die ukraine
(das ist ne woche später)
treffen ihn da und holen ihn ab, nochmal rüber, Лиза bei meinen eltern
es gibt noch querelen, weil unterlagen fehlen, dann klappt es gott sei dank
in der zwischenzeit hat meine mutter sich viel gekümmert
anmeldung läuft, wohnung läuft, 1.4. einzug direkt im treppenhaus gegenüber
ich hatte die vermieterin angerufen, das ging halbwegs reibungslos
klassische sachen danach, essensausgabe suppenküche, soziales kaufhaus
möbel kaufen, mal dies mal das, ämterodyssee
ich komme aus frankfurt, helfe bei dem, was anfällt
scheiße, ich habe die kinder noch nie vorher gesehen
so so tolle kinder, als ich zurückfahr, vermiss ich sie direkt
Angerona holt mich am Bahnhof ab, also wir treffen uns auf dem weg
mein zug kam mal zu früh an, sowas hatte ich auch noch nicht
dann seh ich sie und alles direkt gut, nur ich fühl mich so müde


Bevor ich weiterlese, möchte ich ein Gedicht vortragen, damit Sie hören, was es vorher gewesen ist, um einen Vergleich zu ziehen. Das ist das letzte Gedicht aus dem Zyklus „Königreiche“ aus meinem letzten Band:

Königreich des weiten Wegs

Du hast sie gekannt. Sie war still, hat Gebirge verschluckt
mit dem Blick. Wie Wasserlilien im Dunkeln dich streifen,
sich in Portale verwandeln zu Ängsten, hat sie dich berührt.
Wie ein Punkt, ein gesprochenes Wort, gehört sie zu dir.
Wissen ist nutzlos

und so weiter. Entschuldigung, ich kann gerade nicht weitermachen. Es liegt daran, dass sich diese Sprache komplett gebrochen hat, und es ist nur möglich, so zu schreiben: zum Beispiel als ich angefangen habe, die Geschichte meiner Familie aufzuschreiben, habe ich gedacht, dass es generell eine Form ist, die es mir erlaubt, zu verarbeiten, was mir passiert und was in den Medien passiert.


schäm dich


ich stehe also in der bahnhofshalle magdeburg
frauen mit kurzen röcken, männer mit kurzen hosen
trotzdem komplett unsexy
hässlichste frisuren, stillos gekleidet
sogar die linken rechte assis, klassiker MD
alles beim alten, aber dann kommen ja die ukrainer*innen dazu
immer wenn ich denke, oh, der pulli ist schön, die schuhe sind cool
das sind dann auf jeden fall ukrainer*innen
aber ich fühle mich selbst seit monaten schlecht, wenn ich mich anschau
ertrag meine augen nicht, nase, zähne, bauch vor allem, nur augenbrauen ok
ich glaube, ich nehm zu, weil ich einfach zu viel ess und keinen sport mach
wills aber aufs weniger rauchen schieben
angerona hat völlig recht, dass wir aufhören sollen, aber ich hab mal wieder
null disziplin
ist es eigentlich normal, dass die deutschen das hässlichste volk sind?
ich meine, die haben so winzige augen, entstellte visagen und keinen humor
schweizer noch schlimmer, die österreicher in ordnung, nette menschen
neulich wieder offener brief nummer 1000 von irgendwelchen deutschen
die sich ernsthaft „intellektuelle“ nennen
(haha, wie kann man sich so bezeichnen, bescheuert)
ukraine solle sich ergeben. danke danke. die alte deutsche tugend, moralisch
bodenlos usw
alexander kluge dabei, versteht russland natürlich wieder wunderbar
weitere drittklassige autor*innen, alice schwarzer, klar
bezeichnet im fernsehn ukraine beim interview zur lage 2x als ungarn
(kein witz)
wenn das jemand aus dem fernsehn liest, bitte ladet mich ein
egal, welches thema, ich wollt schon immer im fernsehn referiern
das macht auch die eltern stolz
bestimmt verschluck ich dann wieder die endungen und man muss raten
was ich gesagt hab, macht daheim den ton vom gerät unnötig lauter, hilft nix

aber ich hätt was zu sagen!
guten tag, sie kommen aus der ukraine, sprechen aber gut deutsch –
mund halten, markus lanz! ich sprech besser als du! puh.
ich versteh nicht, weshalb ich überhaupt diese namen kenne
angerona sagt, wir sollten eventuell nach belgien
eigentlich bin ich dagegen, weil ich denk
ich kann nicht ohne deutsche sprache, ziemlich peinlich
deutschland tut als wärs kulturland und kunst wird gehasst
literaturkritiker*innen verstehen grundsätzlich von allem hart wenig
vor allem vom schreiben
kulturreferate stellen pappschildchen vor ihre veranstaltungen, halten reden
in frankfurt neulich „literaturm-festival“ z.B., eh so ein blöder name
und welches genie hat sich ausgedacht, das zu eröffnen (große vorreden:
es soll dieses jahr um die ukraine gehen, superwichtig, superernst)
mit dem russen viktor jerofejew. na wer wars?
erstmal paar geiger mit russischer klassik, dann der fejew auf der bühne
mit übersetzerin und junger moderatorin aus der ukraine
mein gott, die arme!
jerofejew schwafelt blödsinn von wegen russland sei ein land ohne geschichte
märchen statt geschichte, große kultur, kein wort vom krieg
kein wort von russischen dreckssoldaten
kein wort von toten
kein wort von müttern die vergewaltigt werden vor den augen der kinder
der krieg sei entstanden, weil europa russland missversteht
die moderatorin macht das sehr gut, hat aber kaum eine chance
der russe ist standesgemäß auch vollsexist, unterbricht sie bei jeder gelegenheit
sie stelle so blöde fragen, weil auch sie russland nicht verstehe
sitzt breitbeinig auf seim stuhl wie die oberratte
und die simultanübersetzerin entschärft auch noch, was er sagt
dass die deutschen s nicht checken, manchmal macht sie auch einfach fehler
miese nummer
die moderatorin jedenfalls machts gut, weist auf sachen hin
reflektiert die sprechsituation, konfrontiert
keine chance, alles lang verloren
aber es ist ja nicht seine schuld, was soll der trottel sagen
das festival hat dafür schuld! haben wieder nichts verstanden
was setzen sie den dahin, ich verstehs nicht
schämt euch, wirklich
irgendwann halt ichs nicht aus und schrei, der idiot soll seinen mund halten
ich kann einfach nicht mehr, schreie nochmal rein, renn raus aus dem raum
(angerona war schon vor 15 minuten rausgestürmt)
ich seh sie dann draußen auf der straße weinen, es tut mir alles so leid
später höre ich, die leute im publikum hätten darüber geredet
wer sei der mann gewesen, der raus ist, bestimmt ein böser russ
fand bestimmt, sein land wurde zu sehr kritisiert
mein gott. mein gott! wie soll man das ganze aushalten
wie kann man so leben, wie schauen die leute in den spiegel?
verstand? gefühl? schämt euch
ich sehne mich nach edenkoben, da ist Robert, da ists schön
Angerona und ich sollten ihn bald unbedingt besuchen fahren

wirklich, schäm dich. du weißt, dass du gemeint bist.



von ribbentrop meldet sich: warum!? warum immer die deutschen!?
den schuh will ich mir nicht anziehen!

von ribbentrop sitzt in der ersten reihe, meine lesung ist grad vorbei
er hat einen safarihut auf und gestopfte pfeife schon im mund
ich will mir den schuh nicht anziehen grah grah räusperräusper graaah
mit tränen in augen vor wut, schlechter text von breyger! schlechter text!
die italiener sind AUCH schlimm, die franzosen sind AUCH schlimm, die
timbuktaner, tibetaner, mandariner, apfelsiner, die aliens sind AUCH schlimm
usw
ich habe 2 kinder. ihr riskiert einen atomkrieg. wer denkt an meine kinder.
(witzig, weils im text u.a. darum ging, dass die deutschen friedensengel
deutsche leben den ausländischen vorziehen)
als vatergefühle verständlich, nicht böse also, nur ziemlich kurz gedacht
weils ja die selben eignen kinder dran sind, nachdem russland
seinen krieg in der ukraine gewonnen hat und mitm baltikum fertig ist
keine waffen an die ukraine graaah grah, putin könnte das werten
als kriegseintritt! (klar, weil er mit seinem gesetzbuch dasitzt
und zehn beratern und die bei tasse tee gemeinsam rechtlich deuten
was kriegseintritt ist und was nicht, sicher, interessiert sie total)
von ribbentrop schreit und tobt, diskussion im publikum
gefällt mir zuerst, macht spaß, bald dann nicht mehr
ich schaffe es, ruhig zu bleiben, obwohl ich innerlich heule
gefühl als würden die organe nacheinander implodieren
gewicht, dass in den körper zieht von unten nach oben
nach der lesung sag ich ihm: egal, was du erzählst, ich mag dich trotzdem
und da sind wir beide erleichtert
ich würd sagen, man mag sagen, was man will, aber bei ihm denk ich:
integrer mensch
hat durchaus seine themen, aber integrer mensch
und darauf kommt es am ende an

abends sitz ich im restaurant und sprech ein wenig russisch
da fällt mir ein, 2 sprachen sprech ich jetzt
deutsch, russisch, einmal die, die meine leute massengemordet
einmal die, die in deren fußstapfen treten wollen und meine andren leute
umbringen

Yevgeniy Breyger im Gespräch mit Boris Schumatsky

Video Natalia Mikhaylova

Anmelden