Video Natalia Mikhaylova
Wo:Gormannstraße 1, 10119 Berlin
Wann:Donnerstag, 20.10.2022, 19:00

Marina Frenk

Stolpersteine in der Gormannstr. 1

Herbert Haas, *09.03.1916 in Berlin, 1939 Flucht in die Niederlande, interniert im Internierungslager Westerbork, am 21.09.1942 Deportation nach Auschwitz, ermordet 31.01.1943 in Auschwitz.

Paula Buchheim, geb. Rosenthal, *27.04.1882 in Wilhelmshütte (Schlesien), am 01.03.1943 Deportation nach Auschwitz, ermordet in Auschwitz.

Meier Max Buchheim *07.04.1884 in Rosenthal, von Beruf Metzger, im Rahmen des Novemberpogroms wurde er verhaftet und im KZ Buchenwald eingesperrt und am 14. Dezember aus Buchenwald entlassen. Am 1.3.1943 wurde er zusammen mit seiner Frau Paula von Berlin nach Auschwitz deportiert. Meier Max hatte die Transportnummer 1433, seine Frau Paula die 1435.

Diese Deportation geschah im Rahmen der sogenannten „Fabrikaktion“, die alle in der Rüstungsindustrie oder für die jüdische Kultusvereinigung arbeitenden sowie viele in Mischehe lebenden Juden betraf. Am 27. Februar fand in allen Berliner Betrieben, in denen noch Juden beschäftigt waren, eine Razzia statt; die Juden wurden auf offenen Lastwagen zu den vorgesehenen Sammelstellen gebracht. Vom 1. bis zum 6. März gingen vier Züge mit
ungefähr 7000 Juden nach Auschwitz, am 12. März folgte ein weiterer Zug mit 941 Juden zum selben Ziel. In dem Zug vom 1. März 1943 wurden 1722 Menschen nach Auschwitz deportiert, die dort am Folgetag ankamen.
Für Auschwitz wird an jenem Tag die Ankunft von zwei Transportzügen notiert. Von den insgesamt 3000 Juden dieser Transporte wurden ca. 300 Männer und 350 Frauen ins Lager aufgenommen; die anderen wurden umgehend in den Gaskammern des Lagers umgebracht.

Max Meier und Paula Buchheim zählten wohl zu jenen, die am Ankunftstag ermordet wurden.

Synagoge Vöhl Quelle

entflohener Alltag

Diesen Text hat Marina Frenk für ihre Stolperworte-Lesung am 20.10.2022 geschrieben

Ich habe eine Liste mit Namen, Geburtsjahren und Berliner Adressen vor mir liegen: Hugo Schnürmacher, 1877, Strelitzer Str.; Hertha und Adolf Hirsch, 1889 und 85, Rheinsberger Straße; Meier Max Buchheim, Paula Buchheim, Herbert Haas, 1916, 1884 und 1882, Gormannstr.1. 1884,1889, 85, das Ende des neunzehnten Jahrhunderts, da denke ich an vieles gleichzeitig: an das Ende der Leibeigenschaft in Russland und der Sklaverei in den USA, an dunkle Petersburger Hinterhöfe aus Dostojewskis Romanen, an Kafkas und James Joyce’s Geburt, Danton’s Tod, Abraham Lincoln, an viel durchmischte brodelnde Politik, die Aufklärung, die sich doch schon viel früher vollzogen hatte, an den Sinn und Unsinn von vergangenen und zukünftigen Revolutionen und die sich anbahnende Katastrophe, ohne die wir heute nicht hier stehen würden. Also viel historisches Holz, das für mich doch immer abstrakt bleibt. Die gerade erwähnten Straßennamen sind es dagegen nicht, sie sind für mich alltäglich. Durch fast jede dieser Straßen bin ich schon einmal durchgelaufen, musste zu einem Termin, habe jemanden getroffen, oder das Straßenschild ist mir auf dem Weg woanders hin nur zufällig aufgefallen beim Seitenblick aus dem Auto heraus, oder zu Fuß im Regen auf der Suche nach einer Straßennummer. Alles was ich mit Berlin-Mitte verbinde, blitzt im selben Augenblick vor meinem inneren Auge auf, während ich diese Liste mit den Namen und Adressen betrachte, und vermischt sich irgendwo im Unterbewusstsein zu einem Erinnerungsklumpen – alles nichts Besonderes, meine Stadt eben, mein Alltag.  

In jeder dieser Straßen gibt es einen oder auch ganze Batterien von Stolpersteinen, und ich darf mir nun einen aussuchen, um etwas dazu zu sagen. Ich drücke auf die mir zugesandten Links und lese mich durch die wenigen Informationen, die es zu diesen Menschen gibt, die in diesen Straßen gelebt haben, in denen ich auch irgendwie lebe, weil das alles Berlin ist, und verzweifele: wie soll ich entscheiden über welchen Stolperstein ich etwas erzählen möchte? Das einzige, was ich mit Sicherheit über diese Menschen weiß, ist dass sie alle entweder von den Nationalsozialisten ermordet wurden oder den Krieg, auf welche Weise auch immer, überlebt haben. Meine Entscheidung fällt blind auf die Gormannstraße 1. Warum? Weil mein Sohn hier in der Gormannstr.13 zwei Jahre lang einen Kinder-Sportkurs besucht hat und weil sich in der Gormannstr.21 meine Literaturagentur befindet, die ich ab und zu aufsuche, um meinem Agenten bei einem Kaffee zu verklickern, dass ich noch immer keinen neuen Roman geschrieben habe, aber ein paar Kurzgeschichten gäbe es – nicht von Interesse, lässt sich nicht verkaufen…

Max Buchheim, Paula Buchheim, Herbert Haas. Ich frage mich wie ihr Alltag ausgesehen hat, wie es gewesen wäre ihnen hier auf der Straße zu begegnen, während ich im Regen vor der Sporthalle auf meinen Sohn warte, oder ratlos, aufgrund meiner mittlerweile unübersehbaren Schreibblockade, die Agentur verlasse, das letzte Mal vor ein paar Monaten, ebenfalls im Regen.  

Erinnerung hat auch etwas Tropfendes, Nasses an sich, Wasser das einsickert ins Unterbewusstsein. Schreiben ist vielleicht die Erinnerung an das in den Boden der Seele zu tief Eingesickerte, das vergessen wurde. Ich muss also erst einmal die Beschaffenheit dieses Bodens untersuchen, um zu begreifen, was drin steckt, worum es geht. Das ist ähnlich wie mit den Stolpersteinen, erst einmal fällt einem flüchtig etwas glänzendes in den Boden gearbeitetes ein, und bei genauerer Betrachtung, möchte man hinabsteigen in den Stein, tiefer, um zu verstehen, wer diese Menschen waren und wie sie hier in dieser tatsächlichen Straße gelebt haben. „Rosenthal“ und „Auschwitz“ lese ich, danach viele jüdische Vornamen, Eltern und Geschwister, Kinder, die Ehefrau, und der Beruf: Metzger. Lag die Metzgerei hier irgendwo in der Straße, oder arbeitete Max Buchheim in einem anderen Bezirk? War es sein Betrieb oder war er nur angestellt? War es koscheres Fleisch, das verkauft wurde, oder war ihm das vielleicht egal, wie es mir persönlich auch gleichgültig ist welches Fleisch ich esse? Ich lese weiter in den Informationen und mein Blick fällt auf den Ausdruck „Razzia in Betrieben“ bei denen Juden am Arbeitslatz aus ihrem Alltag gerissen und schnellstmöglich deportiert wurden. Ich springe zurück, stelle fest, dass Max Buchheim und seine Frau davor schon in Buchenwald gewesen sind, aber freigelassen wurden (erstaunlich), und dass die Reise nach Auschwitz, schon die zweite Fahrt ins Unbekannte für sie gewesen ist. Dann hören die Aufzeichnungen abrupt auf, ein Dokument belegt, dass sie direkt an ihrem Ankunftstag in Auschwitz ermordet wurden.  

Im Juli dieses Jahres war ich auch in Auschwitz. Ich stand ganz am Ende der Gleise und versuchte den Gedanken auszuhalten aus dem heraus diese Gleise damals gebaut worden sind: hier hört der Weg auf, hier ist Schluss, hier geht es nicht mehr weiter, hier entscheiden die einen Menschen, dass diese Ankunft die letzte sein soll im Leben anderer Menschen, und der Weg, den sie hinter sich haben der letzte gewesen sein soll, denn hier kann der Transportzug mit dem auch Herr Buchheim und seine Frau angekommen waren, seine Fahrt nicht mehr fortsetzen, weil das schwere Stahl der Schiene schlichtweg abgeschnitten ist, ganz konkret.  

Der Plan in den Köpfen derer, die diese Schienen verlegt hatten, war der, dass hier Schluss sein sollte mit Straßennamen und Hausnummern, mit Metzgereien und Schneidereien, mit Büchern, Kochtöpfen, Schulen und Sportkursen, mit Agenturen und Arztpraxen, mit Gesprächen in der Küche in diesem Haus in irgendeinem Stockwerk, mit der Zeitung im Briefkasten, und den Pfützen auf dem Bürgersteig, über die wir gleich am Ende der Veranstaltung wieder die Gormannstraße verlassen werden, in eine andere Straße, und noch eine, an etlichen weiteren Stolpersteinen vorbei in den Abend, die Nacht, den Schlaf, in das Unwissen hinein, wie es mit jedem von uns weitergehen wird – in den Alltag eben, dem jeder von uns in einem Tagtraum entfliehen kann, wenn er oder sie es möchte, soweit die Umstände es zulassen, die Politik z.B. In diesem Oktober 2022 geht das soweit noch, keiner von uns wird morgen in einen Transportzug steigen und seinem von der Phantasie anderer Menschen konstruierten Schluss entgegen fahren. Zumindest nicht aus dieser europäischen Gormannstraße hier heraus. Ein paar Tausend Kilometer weiter, in der Ukraine, geschieht es wieder, Russen deportieren Ukrainer nach Russland. Putin hat das Kriegsrecht in den annektierten Gebieten verhängt, Kinder ohne Eltern können nun offiziell verschleppt und in Russland zur Adoption freigegeben werden, das geschah in den letzten Tagen in Cherson. Menschen werden in Prüf- und Filtrationslagern verwahrt, traumatisiert und misshandelt. Es kann also auch heute noch unerwartet schnell alltäglich werden sich in „Transportgut“ zu verwandeln.  

Ich stelle mir vor, wie mir Herr Buchheim auf dieser Straße entgegenkommt: dunkle Kort-Hosen, schwarzer Mantel, ich stelle ihn mir stämmig vor, klein, die Hände abgearbeitet und grob, der Blick neblig und unausgeschlafen. Oder ganz anders: hochgewachsen, kurze Baumwolljacke in beige, karierte Hose mit Hosenträgern, je nach Berliner Jahreszeit, einer runden Hornbrille, und vielleicht einem schmutzigen Witz in seinen Gedanken. Er hat Feierabend, er ist noch nicht 59 wie in seinem Todesjahr, sondern vielleicht neununddreißig, es ist 1924 und noch nichts klar, vielleicht wird es keine Katastrophe geben und wir alle werden uns niemals 2022 hier begegnen, vielleicht bleibt ein zukünftiger Politiker doch noch bei seinem ursprünglichen, künstlerisch veranlagtem beruflichen Plan, und verwirklicht seine sadistischen Vernichtungsphantasien doch nur auf Leinwänden anstatt in Konzentrationslagern – möglich ist ja immer alles, nur im Nachhinein ist alles unmöglich, wenn alles wirklich geschehen ist. „Alles ist unmöglich“ wäre ein guter Titel für einen Roman.  

Im Juli habe ich in Auschwitz vielleicht auf demselben Quadratmeter Erde gestanden, auf dem Max Buchheim und seine Frau auch perplex auf der Stelle herum traten, während sie von besoffenen Wärtern im Chor mit sabbernden Schäferhunden, zusammengeschrien wurden. Ihr Alltag hörte dort für immer auf, meiner ging weiter nach dem Ende der Führung, nach den abschließenden Worten der mit starkem polnischen Akzent betonenden Fremdenführerin: „Must not be forgot!“  

 Schon eine Stunde später saß ich in einer Hängematte im Café „Bergson“ im Städtchen Oswiecim, einem jüdischen Café mit einem winzigen Museum, das den jüdischen Bewohnern von Oswiecim gewidmet ist, von denen vor dem Krieg von insgesamt Zwölftausend Einwohnern – Siebentausend Juden gewesen sind, und stellte fest, dass mir das nich bewusst war, dass es in der Stadt Auschwitz 20 Synagogen gegeben hatte, dass es mir nicht bewusst war, wie viel jüdischen Alltag es im unweit gelegenen Krakau gegeben hatte, und überhaupt in Polen, in Osteuropa, wie gewöhnlich sie vor sich hin lebten, arbeiteten, liebten, wie sich die polnische und jüdische Kultur innerhalb der Jahrhunderte vermischte trotz Ausgrenzung und Pogromen, die auch Alltag gewesen sind.  

Die Betreiber dieses jüdischen Cafés sind ganz junge Leute, wirken links und queer. Die Ruhe und Gelassenheit des kleinen Innenhofes liess mich sogar ein paar Minuten lang in der Hängematte einnicken. „Im Juli fühlte ich mich wohl in Oswiecim“, auch ein guter Titel für einen Roman. Davor habe ich mit meinem Freund an der Sola gesessen, unmittelbar gegenüber des Lagers in dem Max und Paula Buchheim, und auch Herbert Haas 1943 ermordet worden sind, wir haben unsere Brote gegessen, die wir uns morgens in Krakau geschmiert hatten, bevor wir um sechs Uhr morgens den ersten Bus nach Auschwitz genommen haben. Mein Freund hat seinen Kopf auf meinen Schoß gelegt und ist auch kurz eingeschlafen nach der Führung und ich dachte: auch damals, als das Lager noch aktiv gewesen ist, strömte die Sola dort leise vor sich hin, auch damals war das Wasser an den tieferen Stellen kälter als an den flachen, und auch damals war an manchen Tagen herrliches Wetter, wie an diesem Juli-Tag an dem wir dort gewesen sind. Die Sola ist ein Nebenfluss der Weichsel, in Berlin wohne ich seit Jahren schon in der Weichselstraße.  

Herr Buchheim und ich stoßen aus Versehen mit den Ellenbogen zusammen, die Gormannstraße ist stellenweise so eng wie ein Schlauch.  

– „Passen sie doch auf.“, schnauzt er mich an.  

– „Entschuldigung.“, murmele ich.  

– „Jaja.“, antwortet er und mein Blick bleibt etwas zu lang an ihm hängen. „Was? Kennen wir uns oder was?“, brummt er.  

– „Ich weiß wie sie heißen.“, antworte ich.  

 – „Noch ne Verrückte. Ist denn die ganze Welt verrückt geworden?“, schimpft er und eilt davon, schwer und behäbig. Er hat O-Beine, fällt mir auf und die Hose ist zu lang, die Ränder sind unten schon etwas ausgefranst, weil sie über den Asphalt schlürfen und die unteren Kanten einer weißen Schürze schauen unter dem Mantel hervor, hat er seine Arbeitskleidung nicht ausgezogen? Eine Schürze mit Blutstropfen und Fettflecken von der Verarbeitung des rohen Fleisches zieht man doch aus, denke ich mir, ekelhaft. Er schaut sich noch einmal verärgert nach mir um:  

– „Glotz nicht so, ich hatte keine Zeit, nicht mal die Schürze durfte ich ablegen…raus, raus mit euch!“, ruft er, während er sich in einen Berliner Obdachlosen von heute verwandelt, der aggressive Selbstgespräche auf der Straße führt, und fuchtelt mit dem rechten Arm, als wollte er abwinken, als sei alles egal, so wie es auf einmal egal gewesen ist, dass er in dieser Metzgerei gearbeitet hatte, dass er in dieser Straße wohnte, dass er zehn Geschwister und zwei Kinder gehabt hatte, dass seine Frau Paula hieß.  

Mein Sohn heißt Paul. Banal – der Bezug, ich weiß, aber so banal ist eben Alltag und das Leben in einem Land in Straßen, die eigentlich allen gehören und auf einmal nicht mehr, die plötzliche chamäleonhafte Veränderung, die Politik durchmachen kann, ist auch banal. Auf einmal ist es egal, was gestern das eigene und einzige Leben gewesen ist, morgen soll ganz anders werden, radikale und abrupte Schlussstriche werden gezogen, der Stoff aus dem ein Heute besteht, wird in Fetzen geschnitten, Ära’s beendet, neue Ideen wie Flaschen entkorkt, Ideale vergessen, schiefe Überzeugungen an den Haaren herbei gezogen, Menschen umgesiedelt wie Pflanzen umgetopft werden, und man hat es nicht einmal so wirklich bemerkt, wie sich schleichend alles gewandelt hat, soweit, dass der eigene persönliche Alltag auf einmal keine Zeit mehr für Tagträume lässt, nicht einmal für ein paar Minuten, keine Flucht mehr möglich ist, weder in die eigene Phantasie, noch an einen anderen Ort auf dieser Erde. Auf einmal bleibt nur noch ein abgeschnittener Gleis.  

Der Großvater der Protagonistin Kira Libermann aus meinem Roman „ewig her und gar nicht wahr“ flüchtet 1942 aus dem rumänischen Dorf Capresti vor den rumänischen Nazis über Saporischschja in der Ukraine nach Usbekistan, was er beim Einstieg in den Frachtwaggon noch gar nicht weiß, denn für ihn ist es genau wie für Paula Buchheim und ihren Mann eine Fahrt ins Ungewisse gewesen. Über die Stadt Saporischschja hören wir momentan jeden Tag in den Nachrichten. 1922 wurde die ukrainische Stadt sowjetisch, nach dem Zusammenburch der Sowjetunion war sie wieder ukrainisch, jetzt gerade ist sie zu einem großen Teil wieder russisch besetzt und Putins Ansicht nach annektiert, ein kleiner Teil wird noch immer ukrainisch verteidigt. 1942 wurden rumänische, moldawische und ukrainische Juden von den Sowjets durch Saporischschja evakuiert. Vor ein paar Monaten sind dort vor Russen fliehende Ukrainer von Moldawiern nach Moldau evakuiert worden. Aktuell sind aufgrund der russischen Besatzung die Fluchtmöglichkeiten für Ukrainer aus Saporischschja wieder erschwert oder gar nicht mehr möglich. Der Flucht-Kreislauf unserer alltäglichen Kriege bricht nicht ab, er variiert nur.  

Saporischschja, Ukraine, 1942

Kapitel 10 aus dem Roman »ewig her und gar nicht wahr«, Klaus Wagenbach Verlag, 2020

»Wohin fahren wir?«, fragt Aaron seinen Vater, während er in den Frachtwaggon gehoben wird und versucht, sich den rostig schimmernden Metallstaub aus den Augen zu wischen. Sie hatten am Bahnsteig gewartet, und als der Zug kam, wirbelte er den Eisenerzstaub auf, der jetzt an allem klebt, sich überall absetzt und in den Augen juckt, selbst der starke Regen kann das nicht von der Haut waschen.

»Ich weiß es nicht, Aaron. Nach Russland«, sagt sein Vater, der ebenfalls komplett bronzefarben eingestaubt ist, und hilft Aarons Mutter hinauf. Alle Menschen sehen aus wie Statuen unter dieser merkwürdigen Staubschicht, denkt Aaron. Es herrscht Hektik, wird durcheinander gesprochen und geschrien, Säcke und Koffer werden in die Waggons gehievt, kleine Kinder weinen, und Aaron muss aufpassen, dass er seine Eltern nicht verliert, weil er von den Einsteigenden immer weiter nach hinten in den Waggon gedrängt wird und sich wieder nach vorn arbeiten muss. Seine Mutter ruft nach ihm und ergreift seine Hand. Sie zerdrückt sie beinahe und sagt ihm, er solle immer in ihrer Nähe bleiben, sie dürften sich auf keinen Fall verlieren, alles werde gut.

Sie legen ihre nassen Säcke in einer Ecke aus und setzen sich darauf. Sie haben Glück, ihr Waggon ist nicht so voll, dass man sich nicht mehr bewegen kann. Die Türen werden geschlossen, und der Zug fährt los. Aaron und seine Eltern sind seit drei Tagen unterwegs. Sie sind zu Fuß zu einer Brücke gelangt, die wenige Tage zuvor aus der Luft beschossen und fast zerstört worden war. Die sowjetischen Soldaten haben sie passieren lassen. Von dort aus sind sie weiter nach Saporischschja gelaufen. Es hat so stark geregnet, dass Aarons Schuhe ganz aufgeweicht sind und sie die vielen übereinander gezogenen Schichten von Kleidung unterwegs doch wieder ausziehen und mühevoll in die Taschen stopfen mussten, da der nasse Stoff am Körper klebte und immer schwerer wurde. »Die Treter halten nicht mehr lange, Mama«, sagt er und zieht die nassen Lederfetzen im Zug aus. Seine Mutter holt das Geschirr, das sie in Papier gewickelt hat, aus dem Sack und wickelt es wieder aus. Sie stopft das Papier in seine Schuhe, in der Hoffnung, dass es sich mit der Feuchtigkeit vollsaugt und die Schuhe wieder trocken sind, bis sie aussteigen. Keiner weiß, wie lange sie fahren werden. »Vielleicht fünfhundert, vielleicht ein paar tausend Kilometer«, sagt Aarons Vater Semion. Aaron denkt an Schmulik und an Oma Bina. Er fragt sich, ob ihr Trick funktioniert und sie sich erfolgreich totgestellt hat, damit sie nicht erschossen wird, oder ob die Rumänen ihr auf die Schliche gekommen sind und sie noch einmal umgebracht haben. Alles verdreht sich in seinem Kopf von der Müdigkeit, von dem drei Tage langen Marsch und dem schrecklichen Wetter. »Als hätte der liebe Gott es so bestellt«, sagt seine Mutter. »Wochenlange Dürre und jetzt, wo wir gehen müssen, diese Sintflut. Was soll man sagen … ich habe nichts mehr zu sagen«, spricht sie leise vor sich hin und trocknet Aaron den Kopf ab mit einem Tuch, das sie aus dem Sack geholt hat. Sie wickelt ein weiteres einigermaßen trockenes Tuch um seinen Kopf. Seine Füße hüllt sie in einen Schal und zieht seinen Kopf zu sich auf den Schoß. »Mamenyu«, denkt er und schläft sofort ein vom Rattern und Wiegen und Wackeln des Zuges. Seine Mutter senkt den Kopf im Sitzen und schließt ihre Augen. Der Vater umklammert seine Knie und beobachtet die Menschen um sich herum. Er hält Wache.

Niemand weiß, wer hier noch so sitzt, denkt er. Er möchte nicht ausgeraubt werden im Schlaf. Sie haben ja so schon fast nichts bei sich. »Das ist unser ewiges Schicksal«, denkt Semion. »Meine Großeltern kannten es auch nicht anders. Und die Urgroßeltern auch nicht. Von einem Tag auf den anderen wird gepackt und gegangen. Niemand weiß, wohin, niemand fragt mehr, wozu.« Er weiß, dass es Hilfstransporte der Sowjets sind, sie werden nicht deportiert, sie werden evakuiert, aber ein kleines bisschen Zweifel hat er doch auch an dieser Tatsache und versucht, ab und an einen Blick durch einen Spalt in den Holzwänden zu werfen. »Sinnlos«, denkt er und seufzt müde vor sich hin. »Wald und Felder, sonst nichts. Und bald wird es dunkel.«

Ein paar Stunden später bemerkt Semion, dass er eingenickt ist. Ein weinender Säugling weckt ihn auf. Er zuckt zusammen und überprüft sofort, ob alle Taschen und Säcke noch sicher unter und hinter ihnen verstaut sind. Seine Frau Rosa wacht ebenfalls auf und schaut sich um. Eine junge Mutter hält einen Säugling im Arm und versucht weinend ihn zu wiegen und zu beruhigen. Überall auf dem Holzboden des Waggons verteilt liegen Menschen und versuchen zu schlafen.

Rosa legt Aarons Kopf vorsichtig beiseite und beginnt in einem der Säcke zu kramen. Sie holt ein Taschentuch heraus, in das Zuckerstückchen gewickelt sind, und zieht einen Wollschal hervor. Damit kriecht sie zu der jungen verzweifelten Frau, die ihnen gegenüber hockt. Rosa war so etwas wie eine Hebamme in ihrem Schtetele. Die meisten Kinder ihrer Nachbarn und Verwandten hat sie in den letzten zehn Jahren auf die Welt geholt. Sie fühlt die Stirn des kleinen Mädchens und flüstert, dass es Fieber hat. »Halt sie an die Brust, gib ihr zu trinken, so viel wie es geht. Und jetzt erstmal ein Stück Zucker zum Lutschen, das beruhigt. Danach wird sie sicherlich etwas schlafen. Und wickele sie hier in den Schal, es zieht durch die Ritzen, der Regen hat alles abgekühlt … sie hat nicht genug an.« – »Wir sind geflohen«, antwortet die Frau, »die Rumänen haben uns ausgeraubt, wir hatten keine Zeit zu packen, das ist alles, was ich dabeihabe«, sagt sie und deutet mit einer Kinnbewegung auf die Sachen, die sie am Leib tragen. Sie weint und küsst die Stirn ihres Säuglings. »Elinotschka, meine kleine Elinotschka … sie wird das nicht überleben.« – »Na, halt deinen Mund, du dumme Eule. Elinotschka wird noch einen Kibbuz im zukünftigen Staate Israel erbauen, ganz allein wird sie das tun, mit diesen kleinen Händen hier. Du wirst sehen, ich sage es dir. Und jetzt versuch zu schlafen, wer weiß, wo wir ankommen, und ob du dort schlafen darfst.«

Rosa kriecht zurück und gibt Semion ein Zeichen, dass er sich jetzt ausruhen soll, sie hält Wache. Aaron macht kurz die Augen auf, weil er statt seiner Mutter einen dreckigen Stoffsack riecht, und sie zieht seinen Kopf wieder zu sich auf den Schoß. Mama riecht einfach am besten, denkt er.

»Meine liebe Mama.«

Im Traum seines Halbschlafes sieht er Großmutter Bina neben ihrem Schaukelstuhl mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen. Die dürre alte Frau blutet aus dem Hinterkopf und liegt unbeweglich da. Schmulik läuft aufgeregt um sie herum und schnüffelt an ihren Haaren, er leckt an ihren Händen und jault hohe Töne, wie Hunde es tun, wenn sie sich fürchten. Dann hört Aaron einen gewaltigen Knall und sieht im Traum Schmulik zu Boden fallen. Er reißt seine Augen auf und bemerkt, dass alle Menschen um ihn her panisch zur Tür kriechen. Einige Männer ruckeln daran und versuchen sie aufzukriegen. »Raus, alle raus hier, Bomböschka!«, hört er sie rufen.

Marina Frenk im Gespräch mit Boris Schumatsky

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