Video Natalia Mikhaylova
Wo:Swinemünder Str. 74, 13355 Berlin
Wann:Dienstag, 25.10.2022, 19:00

Marko Martin

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Stolpersteine in der Swinemünder Str. 74


Selma Meyer kam am 14. Februar 1892 in Wirsitz (heute: Wyrzysk / Polen) in der damaligen preußischen Provinz Posen zur Welt. Sie zog nach Berlin, wo sie den 1891 in Tarnów geborenen Hutmacher Chaim Heinrich Wurzel heiratete. Gemeinsam wohnten sie in einer 2-Zimmer-Wohnung in der Swinemünder Straße 74, die damals zum Bezirk Wedding (heute Gesundbrunnen) gehörte. Chaim Wurzel war Inhaber eines Geschäfts für Damenhüte und -bekleidung, das sich im gleichen Haus befand. Das einzige Kind des Paares starb im Alter von einem Jahr.

Am 13. September 1939 wurde Chaim Wurzel im KZ Sachsenhausen in Oranienburg inhaftiert. Selma Wurzel versuchte vergeblich über einen Hilfsverein Auswanderungspapiere für ihren Mann zu besorgen und so seine Freilassung zu erwirken. Ihrer Schwägerin Chaja Knepel, die im Mai 1939 nach London emigriert war, schrieb sie, er werde nur entlassen, wenn 200 Dollar in einem neutralen Ausland zum Zweck seiner Auswanderung zur Verfügung gestellt würden. Es gelang nicht, das Geld zu hinterlegen. Chaim Wurzel wurde am 15. Juli 1940 in Sachsenhausen ermordet. Angeblich starb er an schwerer Zellgewebsentzündung. Selma Wurzel bekam seine Asche überstellt, Angehörigen zufolge erst im Winter 1940/41.

Am 1. Februar 1943 verfügte die Gestapo über die Einziehung ihres Vermögens. Aus ihrer am 5. März 1943 ausgefüllten Vermögenserklärung geht hervor, dass sie zuletzt als Zwangsarbeiterin bei Carl Halfar in der Prinzenallee 74 beschäftigt gewesen war, einer Fabrik, die Uniformmützen für die Wehrmacht und die Berliner Verkehrsbetriebe herstellte. Am 6. März 1943 wurde sie mit dem „35. Osttransport“ nach Auschwitz deportiert. Selma Wurzel wurde in Auschwitz ermordet, ihr Sterbedatum ist nicht bekannt.

Julia Chaker, Quelle

Manès Sperber

Textauszug aus: Marko Martin, „Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters“. Die Andere Bibliothek, 2019

Auch als Sperber im Sommer 1940 ausgemustert wird, weiß er, dass er als Staatenloser kaum eine Chance haben wird, Frankreich zu verlassen. Selbst hier im Süden – in der nach dem Waffenstillstand deklarierten “unbesetzten Zone“ – drohen Denunziation und Auslieferung. In Marseille trifft er schließlich seinen alten Freund Arthur Koestler wieder, der noch im Internierungslager La Vernet an den letzten Kapiteln der Sonnenfinsternis geschrieben hat und nun das Manuskript auf sicherem Weg nach England weiß. Koestler hat sich für die Fremdenlegion verpflichtet, um zuerst einmal aus Marseille herauszukommen. Sein Abschiedsgeschenk für Manés Sperber, der sich überdies für seine Frau Jenka verantwortlich fühlt: Eine weiße Pille für den Fall, dass der Tod der letzte Ausweg wäre – wer auch immer die potentiellen Mörder sein würden. (Hatte sich in der kleinen Gemeinschaft der Antinazi-Flüchtlinge nicht bereits Willi Münzenbergs mysteriöses Verschwinden herumgesprochen, dem sowohl die Gestapo wie auch Stalins Geheimdienst nach dem Leben getrachtet hatten?)

So unsicher die Lage ist, Sperber weiß, dass er schreiben muss. Keine Essays diesmal, sondern einen Roman: Beginnend mit seinen ersten Zweifeln im jugoslawischen Untergrund, dem blutigen Konflikt zwischen stalinistischen Kommunisten, serbischen Ultranationalisten  und faschistischen Ustaschi, in denen sich der kalkulierte Wahnwitz des Kommenden bereits angekündigt hatte. Zusammen mit Jenka findet Sperber im Mittelmeerort Cagnes eine temporäre Bleibe, die Dank von Malraux nicht zur Todesfalle wird: Dieser hatte vom lokalen Präfekten erfahren, dass Sperber auf einer Auslieferungsliste des Vichy-Regimes stand – besser also, er und seine Frau blieben ohne polizeiliche Anmeldung und somit inexistent, und verließen das Häuschen über dem Meer so selten wie möglich.

Gequält von einem schmerzhaften Magen-Ulcus, voller Sorgen um das täglich knapper werdende Geld, beginnt Sperber mit seinen Notizen. Zuerst im Haus mit Stift und Papier, dann – aus Furcht vor Razzien in einem benachbarten winzigen Pavillon – die Sätze und Szenen immer wieder lautlos memorierend, bis sie sich ins Gedächtnis geprägt hatten. So entsteht, Wort für Wort, Seite für Seite, der Roman Der verbrannte Dornbusch, der 1949 erscheinen wird und seine Fortsetzung findet in den Büchern Tiefer als der Abgrund und Die Verlorene Bucht. Ein Jahrhundert-Panorama, das nach Wien, Deutschland, Frankreich und ins besetzte Polen führt, wo mit der tausendjährigen Geschichte des osteuropäischen Judentums auch die Welt von Manés Sperbers Schtedl-Kindheit auf grauenvolle Weise endet. Unter dem Titel eine Wie eine Träne im Ozean zur Trilogie zusammengefasst, wird Sperber dann vor allem für dieses Werk 1975 den Georg-Büchner-Preis der Darmstädter Akademie erhalten, Heinrich Böll wird sein Laudator sein. Nichts davon war in jenen Tagen vorstellbar, als er schrieb, wie zuvor  schon Arthur Koestler Sonnenfinsternis geschrieben hatte und nach ihm George Orwell 1984, Hans Sahl den Roman Die Wenigen und die Vielen und Pavel Kohout das Tagebuch eines Konterrevolutionärs (oder Jürgen Fuchs seine Vernehmungsprotokolle): Hochkonzentriert, obwohl im Wettlauf mit der Zeit, und der präzise Blick auf das vermeintlich Periphere, Kleine, Leise und Private ein ethischer, aber auch ästhetischer Einspruch gegen ein Zeitalter der Führer, Massenparaden und Parolen. Ein Trotzdem-Bewusstsein, wider alle Wahrscheinlichkeit: Worte könnten etwas bewirken, umso mehr wenn sie zu einer Geschichte, zu Literatur geworden wären und damit mehr als lediglich Argumentation. Und wieder Malraux, der sich kurz darauf der Résistance anschließen wird: Allein auf dessen Empfehlung erklärt sich in Nizza der Schriftsteller und Nobelpreisträger Roger Martin du Gard bereit, das Manuskript des ihm völlig unbekannten Manés Sperber heimlich aufzubewahren.

Sperber, der in den Nachkriegsjahrzehnten unter dem Titel All das Vergangene…auch eine dreibändige Autobiographie veröffentlichen wird, beschreibt in deren dritten Teil seine Flucht über die Alpen, aus Frankreich hinüber in die Schweiz, auf die gleiche Weise, in der er seinerzeit diese Zeit durchgestanden hat: Als genauester Beobachter der Umwelt und seiner selbst und gleichzeitig als beinahe kühler Chronist. Ich glaubte, dass ich gewiss nicht lange genug leben würde, um das, worauf es ankam, zu Ende zu führen; also ging es darum, täglich einige Stunden lang Zuflucht zu finden. Ich schrieb, wie der einsame Wanderer, verloren in tiefer Nacht, singen oder zu sich selber sprechen mag. KeinMitleid wird hier erheischt. Und doch möchte der Leser diesem schmächtigen und von blutigen Magengeschwüren geplagten Flüchtling, der sich überdies vor Hunger kaum aufrecht halten kann und von einem geldgierigen Schmuggler kurz vor der Schweizer Grenze in unwirtlicher nächtlicher Berggegend allein gelassen wird, über die Jahrzehnte hinweg einfach das Kommende zurufen. Ja, er wird die Schweiz erreichen. Mehr noch: Seine Frau Jenka und der gerade erst geborene Sohn Dan werden ebenfalls aus Frankreich fliehen können. Und noch als alte Frau wird dann Jenka Sperber in einem kleinen Pariser Restaurant Jürgen und Lilo Fuchs befragen, wie deren erste Momente im Westen gewesen waren, wie sie mit der mehr oder minder freundlichen Naivität der dort Geborenen umgegangen sind, mit jenem oft kaum kaschierten Misstrauen gegenüber Geschichten und Überbringern, die all zu fremd erschienen. Und wie es die Familie Fuchs vermocht hatte, sich in diesem neuen Leben ebenfalls Fremde zu Freunden zu machen.

Denn obwohl Sperber als Staatenloser auch in der Schweiz interniert wird und die mit Antisemitismus vermischte Härte der Militärbürokratie erlebt, findet er gleichzeitig Menschen wie jenes Pfarrer-Ehepaar, dem er, der jüdische Agnostiker, sein Leben lang verbunden bleiben wird. Und schließlich, nach der Befreiung Frankreichs (das nun den aus London zurückgekehrten General de Gaulle zujubelt und die erst kurz zurückliegende Nazi-Kollaboration eilfertig zur verdrängen sucht), das emotional überwältigende Wiedersehen mit den zwei Freunden, die ebenfalls überlebt hatten, ohne zu Opportunisten geworden zu sein: Der Résistant André Malraux, inzwischen de Gaulles Informationsminister, und dessen Kabinettsdirektor Raymond Aron, der während der Kriegsjahre für France Libre in London gearbeitet hatte (und dort wiederum Freundschaft schloss mit Romain Gary, dessen Weltkriegsroman General Nachtigall Motive der in Polen spielenden Passagen in Sperbers Trilogie bereits vorwegnimmt.)

Solche Menschen rechtfertigen nicht nur ihr eigenes, sondern unser aller Dasein auf Erden, ihretwegen leuchtet das Licht selbst in der Finsternis. Die Freude, sich im Einklang mit Freunden zu wissen, besonders wenn man, ferne von ihnen, gegen den Strom schwimmt, kennt jeder, der erfahren hat, wie die Einsamkeit den Mut ermatten kann.

Marko Martin im Gespräch mit Boris Schumatsky

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