Video Johannes von Plato
Wo:Seydelstraße 21, 10117 Berlin
Wann:Donnerstag, 04.11.2021, 18:00

Widad Nabi

Stolpersteine · Essay und Gedicht · Gespräch

Stolperstein in der Seydelstraße 21

Fritz Cohn wurde am 1. Dezember 1896 in Berlin geboren. Nach seinem Abitur im Jahr 1914 war er bis 1918 Soldat im Ersten Weltkrieg. 1934 wurde ihm aus diesem Grunde das „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“ verliehen. Er absolvierte ab 1920 eine Buchhändlerlehre und eröffnete in der Seydelstraße 21 in Berlin-Mitte eine Buchhandlung. 1936 wurde das Geschäft „arisiert“. Er war bis März 1938 im Theater des Jüdischen Kulturbundes in der Kommandantenstraße tätig. Um den Lebensunterhalt für seine Familie zu bestreiten, verkaufte er illegal Bücher, was ihm zum Verhängnis wurde. Er wurde in das KZ Buchenwald verschleppt. Seine Frau Gertrud konnte ihn am 3. Januar 1939 „freikaufen“. Sie musste sich aber scheiden lassen und ihr Mann musste innerhalb von vier Wochen Deutschland verlassen. Am 6. Februar emigrierte er – innerlich gebrochen – nach Schanghai. China war eines der wenigen Länder, das zu diesem Zeitpunkt noch Juden aufnahm. Fritz Cohn starb am 1. September 1944 in Schanghai. Der Buchladen und die Wohnung befanden sich in der Seydelstraße/Ecke Neue Grünstraße.

Bürgerverein Luisenstadt e. V. Quelle

Ein Stolperstein

Ein Essay von Widad Nabi

Am Hackeschen Markt in Berlin fiel mein Blick zum ersten Mal auf einen Stolperstein. Für eine Person, die die deutsche Sprache weder beherrscht noch die Bedeutung dieser Steine kennt, waren diese golden leuchtenden Steine unter meinen Füßen, die mit Namen und Zeichen versehen waren, wie Gegenstände aus den Märchen von Tausendundeiner Nacht. In diesem Moment bin ich in eine andere Zeit und an einen anderen Ort gereist.


Vor 15 Jahren war ich im syrischen Maskat in der Nähe von Kobanê. Ich war ein 15-jähriges Mädchen das mit seiner Familie die Sommerferien in einem kleinen Dorf verbrachte. Um dem monotonen Dorfleben zu entkommen, lasse ich viele Bücher, die ich aus Aleppo mitgebracht hatte. Ich war ein Kind, dass sich eigene Welt aus Wörtern, Gedichten und Geschichten zusammenbaute, in der der Tod, Schmerz und Hunger keinen Platz hatten. An einem frühen Morgen hatte ich eine Idee: ich wollte meine Erinnerungen aufschreiben, damit sie andere aus einer fernen Zukunft lesen können.

Ich nahm mir ein großes Blatt und zeichnete kleine Würfel, in die ich Namen von geliebten Menschen schrieb. In andere Würfel trug ich Namen von Büchern, Dichtern und Geschichten ein, die mich prägten. Durch diese Blätter in meinen Händen sehe ich meine eigene Welt. Auf andere Blätter schritte ich Zitate, die ich aus Liebe auswendig gelernt hatte, wie den Satz des französischen Schriftstellers André Gide: „Die schönsten Dinge sind die, welche der Wahnsinn einbläst, die Vernunft niederschreibt“. Von all meinen großen und kleinen Träumen und Wünschen kann ich mich an zwei besonders gut erinnern: Erstens wünschte ich mir eine weltweit berühmte Schriftstellerin zu werden. Zweitens wünschte ich mir, dass die Hungersnot in Afrika, die ich in den Nachrichten verfolgte, besiegt wird.

Ich rollte die Blätter und fixierte sie mit einem roten Faden zusammen, dann steckte ich sehe in eine leere Glasflasche, die wird zu Hause hatten. Nachdem ich sie fest verschlossen hatte, ging ich mit meiner Schwester in den Hof bis zu den kleinen Olivensträuchern. Ich markierte die Stelle mit einem großen Stein und schaufelte eine tiefe Grube, so gut ich konnte. Dort legte ich die Glasflasche hinein und deckte sie mit Erde zu, dann schrieb ich zwei Sachen auf den Stein: „Die Erinnerungen an ein bevorstehendes Leben“ und das Jahr 2015. In diesem Jahr wollte ich dorthin zurückkehren.

Heute weiß ich nicht, wie sich das Schicksal der Menschen, die ich liebte, veränderte. Was veränderte sich an meinen Träumen? Was davon habe ich erreicht? Was nachher geschah ähnelt dem Schicksal der Namen, die auf den Stolpersteinen in Berlin stehen. Alte Träume, Wünsche und Menschen sind jetzt auf der ganzen Welt verstreut. Manche starben durch den Krieg, andere flohen aus dem Land und so trennten sich unsere Wege. Mein Wunsch die Hungersnot in Afrika zu stoppen, scheint mir heute lächerlich angesichts der Zustände in Jemen und in Somalia. Auch meine Wunsch, Schriftstellerin zu werden, kommt mir albern vor, vor allem nach all dem, was ich und mein Land in den letzten sieben Jahren durch den grausamen Krieg erleben mussten.

Daher frage ich mich wie kann solch ein kleiner Stolperstein mitten in der Stadt das Schicksal und die Träume der darauf benannten erzählen? Wie kann solch ein kleiner Stein eine Entschädigung sein für all den seelisch seelischen und körperlichen Schmerz, denn diese Menschen – mit Familien und träumen – ertragen mussten? Wie kann solch ein kleiner Stein, der in der Nähe des Hofes meine Familie im Dorf platziert wird, dessen Bewohner wegen dem Krieg geflohen sind, meinen Schmerz und Verlust in sich tragen? Mein Schicksal und das Schicksal von Millionen anderer und ihrer Erinnerung sind im Meer voller Blut verloren gegangen.

Ehrlich gesagt, hatte ich die Glasflasche vollkommen vergessen, doch die Stolpersteine in Berlin erinnerten mich daran. Zwei weitere Jahre waren zum geschriebenen Datum auf dem Stein dazu gekommen, unter dem meine Wünsche vergraben sind. Es ist unmöglich, zu diesen Blättern, der Glasflasche und den Wünschen zu gelangen, vor allem nicht in naher Zukunft.

Nach einiger Zeit erkannte ich, dass Erinnerungen überall dem gleichen Schicksal begegnen, egal an welchem Ort; die Härte der Ereignisse formt diese Erinnerungen, wenn sie in Vergessenheit geraten. Wurden meine in der Glasflasche versteckten Erinnerungen gerettet? Wurde ihr Schicksal gerettet? Wurden die Schicksale derer, die durch die Nationalsozialisten vernichtet worden, vor Vergessenheit bewahrt, indem man ihre Namen auf Steinen auf den Bürgersteigen verewigte?

Nichts, überhaupt nichts bewahrt unser Schicksal vor Vergessenheit, weder die Stolpersteine, noch die eingegrabene Glasflasche in meinem Dorf. Alles führt auf seine Weise zu der Erinnerung an ein dunkles Schicksal, über dass wir stolpern. Wir sind diejenigen, die das Recht auf Glück verloren haben, weil unsere Erinnerungen an unserer vergangenes Glück zu Stolpersteinen werden, über die wir stolpern, egal wohin wir gehen.

2017 Übersetzung Luna Al-Mousli

Der Ort von Erinnerung beleuchtet

Für unsere Häuser, die wir verließen bei jeder Zerstörung und Bombardierung.

1
Traurig ist,
dass du die Ruinen deines Hauses im Traum besuchst
und zurückkehrst ohne Staubspuren an deinen Händen.

2
Zärtlich ist,
dass du die verwelkten Blumen gießt
im Nachbargarten,
weil die Blumen deines Hauses
ohne Wasser unter Bomben starben.

3
Die Entfernung ist
eine Zwangsgeografie,
trennt zwei Städte voneinander.
Zwischen ihnen Tausende von Meilen,
in einer hast du deine Kleider auf der Wäscheleine gelassen,
in der zweiten streckst du deine Hand in die Luft,
um deine Kleider von der Terrasse in der ersten zu nehmen.

4
Deine Hand,
die an den Klingeln deines alten Hauses haftet.
Wer erzählt ihr,
dass „die Häuser nicht mehr denen gehören, die sie verließen“?

5
Nur das Wasser allein
weiß, warum die Blumen weinen
auf den Balkonen der glücklichen Familien,
die wir verlassen haben.

6
Auf dem Weg zu deinem neuen Zuhause
gibt es eine lange Straße der Sehnsucht,
du wirst dort ewig entlanglaufen.

7
Berührst du das harte Metall des Busses hier,
wächst dort eine Narzisse
auf dem Metallgriff deiner Haustür.
So bleiben die Häuser ihren vertriebenen Besitzern treu.

8
Mitten im Schlaf wacht jede Nacht auf.
Der Wasserhahn tropft immer noch
in deiner alten Küche.

9
Das Leben wird nicht so schlimm,
es schenkt dir ein neues Haus.
Aber deine Seele bleibt ein Wolf,
der jede Nacht heult
auf der Stufe deines alten Hauses.

10
Hinter dem alten Fenster
beobachtet dein Bild den Regen,
die feuchte Buche weint
und niemand bemerkt sie.

11
Die Dunkelheit gedeiht
in den verlassenen Häusern
wie das Kraut im April.
Trotzdem ist der Ort von Erinnerung beleuchtet.

Übersetzung Suleman Taufiq

المكان مضاء بالذكرى

لبيوتنا التي هجرناها في كل خراب وغياب وقصف .

وداد نبي

1
‎الأسى
‎أنْ تزورَ أنقاضَ بيتكَ في الحُلم
‎وتعودَ منهُ دونَ أن يَعلقَ غبارهُ على يديكَ

2
‎الرِّقة
‎أن تسقي الأزهار الذابلة
‎في حديقةِ الجيران
‎لأن زهورَ بيتكَ ماتت جفافًا تحت القصف

3
‎المسافة
‎جغرافيا قهرٍ
‎تفصلُ مدينتين بينهما آلاف الأميال
‎في الأولى تركتَ ثيابكَ على حبلِ الغسيل
‎وفي الثانية تمدُّ يدكَ في الهواء
‎لتلتقط ثيابك من شرفة الأولى

4
‎يدكَ العالقة على جرسِ بيتكَ القديم
‎من يُخبرها
‎“المنازل ليستْ لمن رحلوا عنها “

5
‎وحدهُ الماء
‎يعرفُ سبب بكاء الزهور
‎في شرفات المنازل السعيدة
‎تلك التي هجرناها

6
‎في الطريق لبيتكَ الجديد
‎ثمة شارع طويل للحنين
‎ستمشي فيه أبدًا

7
‎أن تلمسَ حديد الحافلة القاسي هنا
‎فتنمو نرجسة على المقبضِ الحديدي لبابِ بيتكَ هناكَ
‎تلك طريقةُ المنازل بالوفاء لأصحابها المُهجرين

8
‎تستيقظُ كل ليلة من منتصف نومكَ
‎صنبور المياه لا يزالُ ينقطُ بمطبخكَ القديم

9
‎الحياة لنْ تكون بهذا السوء
‎ستمنحكَ بيتًا جديدًا
‎لكن روحكَ ستبقى ذئبًا
‎يعوي كل ليلة
‎على أدراجِ بيتكَ القديم

10
‎وراء النافذة القديمة
‎صورتكَ تراقب تساقط المطر
‎شجرة الزان المُبللة تبكي
‎ولا أحد ينتبه لها

11
‎العتمة
‎تنمو في المنازل المهجورة
‎كعشبِ نيسان
‎ورغمها المكان مُضاء بالذكرى.

Widad Nabi im Gespräch mit Boris Schumatsky

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