Abraham Fuss wurde am 19. März 1891 in Mościska (Mostyska) in Galizien geboren. Er war der Sohn von Jutta, geb. Reif, und Nathan Fuss. Ende der 1920er Jahre lebte er in Berlin, lernte hier Hildegard Schmul kennen und heiratete sie im Dezember 1928. Anfang 1930 kam ihre Tochter Ruth zur Welt und ein Jahr darauf deren Schwester Thea. Die Familie zog in die Fehrbellinerstraße 83 (heutige Hausnummer 81) in Berlin-Mitte. In der Wohnung betrieb Abraham mit seiner Frau eine etablierte Schneiderei mit vier Angestellten und mehreren Gehilfen.
Abraham Fuss wurde bereits Ende 1938 im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ – der kurzfristig und gewaltsam durchgeführten Ausweisung von 17 000 jüdischen Polen aus dem Deutschen Reich – nach Zbąszyń (Bentschen) abgeschoben und interniert. Aus der Internierung entlassen, kehrte er 1939 zwar noch einmal nach Berlin zurück, wurde dort aber erneut verhaftet und am 13. September 1939 in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert.
Seine schwangere Frau, die ebenfalls Repressionen zu befürchten hatte, flüchtete daraufhin nach Schweden. Ruth und Thea gab sie vor der Flucht in die Obhut des Großvaters der beiden Mädchen, von dort kamen sie in das Jüdische Kinderheim in der Fehrbelliner Straße. Die beiden Schwestern waren, nachdem sie von ihren Großvater getrennt worden waren, bis zur Schließung 1942 in diesem Kinderheim untergebracht. Die stetigen Versuche von Hildegard, aus Schweden heraus für den Mann und die Töchter Erleichterungen oder bestenfalls die Ausreise zu ermöglichen, scheiterten.
Am 28. Mai 1942 wurde Abraham Fuss um 19 Uhr im Konzentrationslager Sachsenhausen „auf Befehl“ erschossen. Am 19. Oktober 1942 wurden die beiden Schwestern Ruth und Thea nach Riga deportiert und hier nach Ankunft am 22. Oktober 1942 in den Wäldern bei Riga erschossen.
Am 19. Oktober 1942 wurden die Schwestern Ruth und Thea mit dem „21. Osttransport“ nach Riga deportiert und unmittelbar nach Ankunft ermordet.
Indra Hemmerling, Quelle
Nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis
Ein Essay von Kathrin Bach
Am Tag, an dem mein Freund zu einem Literaturfestival fährt, um über Erinnerung zu sprechen, stellt er sich vier Wecker, um nicht zu verschlafen.
Als ich morgens aufstehe, liegen zwei Zucchini auf dem Boden im Flur. Unter ihnen ein roter Zettel, auf dem in meiner Schrift Zucchinis geschrieben steht.
Meine Freundin schreibt mir, sie habe sehr intensiv von mir geträumt, wir seien in Polen gewesen, hätten sehr viel Kuchen gegessen, aber es hätte auch gruselige Szenen gegeben, ich hätte eine NS-Vergangenheit gehabt, an mehr könne sie sich nicht mehr erinnern. Sie verspricht, sich nochmal anzustrengen und mir Bescheid zu geben, falls die Erinnerung wiederkäme.
Am Tag, an dem mein Freund zu einem Literaturfestival fährt, um über Erinnerung zu sprechen, gehe ich abends ins Kino und schaue einen Film über den Verlust von Erinnerung. Anthony Hopkins spielt einen alten dementen Mann, der Anthony heißt. Er bringt mich zum Weinen.
Auf nebenan.de werde ich zu einer Stolpersteinverlegung eingeladen. Ich trage mir den Termin in meinen Kalender ein und verpasse es hinzugehen. Erst jetzt, als ich das aufschreibe, fällt mir ein, dass ich auch einfach so hingehen könnte, dass der Stein ja bleibt, nachdem er verlegt wurde.
Ich frage Wikipedia, ob ein Stolperstein ein Stein ist.
Sie sind 10 x 10 cm groß, aus Beton gegossen, mit einer Messingtafel versehen und werden in öffentliche Gehwege bündig eingelassen, damit niemand durch sie zu Schaden kommen kann.
Ich denke, dass es irgendwie aber auch okay wäre, wenn jemand durch sie zu Schaden käme. Oder?
Ich wüsste einige, denen ich wünschen würde, durch einen Stolperstein zu Schaden zu kommen. Oder?
Ich stehe abends vor dem Spiegel und putze mir die Zähne, ich denke an Anthony Hopkins, Demenz und dann an meine Großeltern. Ich stelle mir vor, dass nur Menschen in Deutschland im Alter an Demenz erkranken.
Ich stelle mir vor, wie all die gealterten Gehirne gescannt werden. Deutsche Magnetresonanztomographie. Wie sich die Aufnahmen, die an Leuchtwände projiziert werden, alle ähneln. Als wären überall die gleichen Erinnerungslücken hineingefräst worden.
Mein Großvater väterlicherseits hatte einen Granatsplitter in seinem Kopf. Er konnte deswegen früher in den Ruhestand und war Mitglied des VdKs[1]. Als Kind stehe ich oft mit meiner Mutter in der Bäckerei im Dorf und suche mir einen Granatsplitter aus. Ein Haufen Mürbeteig mit einer cremigen Nougatfüllung, von Schokolade überzogen. Ich stelle mir das Gebäck im Kopf meines Opas vor.
Es ist ein Sonntag, an dem ich in die Fehrbelliner Straße laufe. Spätsommer. Es ist warm. Vom Teutoburger Platz kommend biege ich zuerst nach links und stelle mich vor das ehemalige jüdische Kinderheim. Ein eingetragener Verein von 1910 bis 1942. Jetzt ein Stadtteilzentrum. Eine Selbsthilfegruppe. Ein offener Treff bei Angst und Depression. Ein Trauercafé und ein Auffüllort für heißes Wasser. Ich stehe vor dem Haus, durch dessen große Fenster das Licht gut fließen kann. Von der Hauswand links schaut mich Rudi Dutschke an. Never forget. Vom Boden aus: ein quadratischer Stein. Ich versuche den eingravierten Namen zu entziffern, aber da steht kein Name. Da steht GAS.
Ich schlucke, beuge mich hinunter und mache ein Foto. Das, was ich sehe, kommt mir vertraut vor. Die ganze Stadt ist voll davon. Was ist das? Wie nennt man das? Und hat das exakt die gleiche Größe wie die Stolpersteine, ein paar Häuser weiter?
Die Straßenkappe (auch Schieberkasten, Hydrantenkasten, Schieberkappe, Hydrantenkappe) zählt neben der Schachtabdeckung zu den Straßeneinbauten. Es handelt sich dabei um einen kleinen Schutzschacht, der dazu dient, unterhalb der Straßenoberfläche eingebaute Armaturen von Wasser-, Abwasser-, Gas- oder Fernwärmeleitungen leicht zugänglich und bedienbar zu machen. Die Straßenkappe besteht aus einem runden, rechteckigen oder ovalen Guss- oder Kunststoffrahmen mit eingelegtem Deckel, in dem sich ein Steg zum Ausheben des Deckels befindet. Um Straßenkappen leicht und schnell auffindbar zu machen (insbesondere bei geschlossener Schnee- bzw. Eisdecke), wird deren Lage mit Hilfe entsprechender Hinweisschilder angezeigt.
GAS. An was denkst du bei dem Wort?
Ich laufe die Straße weiter runter, Richtung Weinbergsweg. Ich betrachte alles ganz genau. So, als würde ich gleich eine Wohnung anschauen und müsste die Nachbarschaft abchecken. Wie wäre es, jeden Tag diese Straße hinunterzulaufen? Wie war es, diese Straße ein letztes Mal hinunterzulaufen?
Fehrbelliner Straße 81. Ich stehe vor dem Haus, an das rechts kein anderes grenzt, erst einige hundert Meter weiter unten ein großes Gebäude. Ein Pflegeheim. Ich erinnere mich, dass die Oma meiner Freundin dort wohnt. Sie hat durch einen Unfall ihre Finger verloren. Meine Freundin fährt regelmäßig hin und schreibt die Erinnerungen auf, die sie diktiert bekommt.
Fehrbelliner Straße 81. Ich stehe vor dem Haus. Die Tür ist blau. An der Hauswand ein Anarchiezeichen. Ein Fenster, in dem ich mich spiegele. Vor dem Haus drei Steine.
Thea Fuss Abraham Fuss Ruth Fuss
Drei Steine, die eine Familie bilden. Bei der eine fehlt.
Weil sie am Leben blieb.
Abraham Fuss wurde am 19. März 1891 in Mościska (Mostyska) in Galizien geboren. Er war der Sohn von Jutta, geb. Reif, und Nathan Fuss. Ende der 1920er Jahre lebte er in Berlin, lernte hier Hildegard Schmul kennen und heiratete sie im Dezember 1928. Anfang 1930 kam ihre Tochter Ruth zur Welt und ein Jahr darauf deren Schwester Thea. Die Familie zog in die Fehrbellinerstraße 83 (heutige Hausnummer 81) in Berlin-Mitte. In der Wohnung betrieb Abraham mit seiner Frau eine etablierte Schneiderei mit vier Angestellten und mehreren Gehilfen.
Wie meine Großeltern gestorben sind?
Erstens: drei waren dreiundachtzig Jahre alt, einer vierundsechzig.
Abraham Fuss wurde bereits Ende 1938 im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ – der kurzfristig und gewaltsam durchgeführten Ausweisung von 17 000 jüdischen Polen aus dem Deutschen Reich – nach Zbąszyń (Bentschen) abgeschoben und interniert. Aus der Internierung entlassen, kehrte er 1939 zwar noch einmal nach Berlin zurück, wurde dort aber erneut verhaftet und am 13. September 1939 in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert.
Zweitens: einer hatte Krebs, eine einen Schlaganfall, eine Demenz und kaputte Herzklappen. Einer ging lebend ins Mittelmeer und kam tot wieder raus. Herzschlag.
Abrahams schwangere Frau, die ebenfalls Repressionen zu befürchten hatte, flüchtete daraufhin nach Schweden. Ruth und Thea gab sie vor der Flucht in die Obhut des Großvaters der beiden Mädchen, von dort kamen sie in das Jüdische Kinderheim in der Fehrbelliner Straße. Die beiden Schwestern waren, nachdem sie von ihrem Großvater getrennt worden waren, bis zur Schließung 1942 in diesem Kinderheim untergebracht. Die stetigen Versuche von Hildegard, aus Schweden heraus für den Mann und die Töchter Erleichterungen oder bestenfalls die Ausreise zu ermöglichen, scheiterten.
Drittens: Alle bekamen eine Beerdigung, zu der das ganze Dorf kam.
Am 28. Mai 1942 wurde Abraham Fuss um 19 Uhr im Konzentrationslager Sachsenhausen „auf Befehl“ erschossen.
Viertens: Alle liegen in ihren Doppelgräbern so wie vorher in ihren Ehebetten.
Wie alt mein Opa war, als Abraham Fuss erschossen wurde?
Siebzehn.
Wo mein Opa war, als Abraham Fuss erschossen wurde?
Irgendwo in Russland, wahrscheinlich.
Wo mein Opa gestorben ist?
Mittelmeer, Marmaris, Türkei.
Wie alt mein Opa war, als er gestorben ist?
Dreiundachtzig.
Wie alt Abraham Fuss war, als er gestorben ist?
Einundvierzig.
Ob mein Opa geschossen hat?
Bestimmt.
Ruth Fuss, geboren am 4. September 1931 in Berlin, war eine Tochter von Hildegard und Abraham Fuss. Sie besuchte in der Fehrbelliner Straße 92 einen Hort der Jüdischen Gemeinde, welcher zu ihrem Waisenhaus wurde. Zwei Jahre lebte sie mit der Schwester Thea dort, nachdem der Vater nach Polen ausgewiesen wurde und die Mutter nach Schweden geflüchtet war.
Wo meine Oma geboren wurde? Piwana, heutiges Tschechien. Welchen Beruf meine Oma gelernt hat? Schneiderin.
Ob ich mit ihr über den Krieg gesprochen habe? Kaum.
Thea Fuss, geboren am 16. Januar 1930 in Berlin, war eine Tochter von Hildegard und Abraham Fuss. Sie besuchte in der Fehrbelliner Straße 92 einen Hort der Jüdischen Gemeinde, welcher zu ihrem Waisenhaus wurde. Zwei Jahre lebte sie mit der Schwester Ruth dort, nachdem der Vater nach Polen ausgewiesen wurde und die Mutter nach Schweden geflüchtet war.
Ob ich einen Auftrag für eine personenbezogene Recherche zu Unterlagen des Bundesarchivs über Militärangehörige starten wollte, um mehr über meinen Opa zu erfahren? Ja. Ob ich es gemacht habe? Nein. Warum nicht? Alles war zu kompliziert und bürokratisch. Achja?
Am 19. Oktober 1942 wurden die beiden Schwestern Ruth und Thea nach Riga deportiert und hier nach Ankunft am 22. Oktober 1942 in den Wäldern bei Riga erschossen.
Wann ich geboren wurde? 14. Oktober 1988.
Bei Google Maps lasse ich mir die schnellste Verbindung zwischen Riga und Stockholm anzeigen. Zwischen Riga und Stockholm liegen 632 Kilometer − und eine Zeitzone. Mit Auto und Fähre zu schaffen in 16 Stunden und 6 Minuten.
Danach suche ich eine Route von Berlin, Fehrbelliner Straße 81, nach Riga. 1232 Kilometer. 13 Stunden und 33 Minuten mit dem Auto.
Und von Berlin nach Bentschen (Polen)? Nur 210 Kilometer. Und: wieder zurück nach Sachsenhausen (223 Kilometer). Wie viele Kilometer zwischen der Fehrbelliner Straße und dem KZ Sachsenhausen liegen? 20,7 Kilometer.
Ich traue mich nicht auf Stolpersteine zu treten. Nicht bewusst. Oft bleibe ich stehen, lese den Namen und rechne aus, wie alt der Mensch war, als er deportiert, als er ermordet wurde.
Sind da mehrere Steine an einer Stelle, tröstet es mich kurz. Als wäre jemand nicht alleine gewesen, als wäre jemand nicht alleine gestorben. Aber stopp: Zusammen stirbt man weniger allein? Wenn man ermordet wird?
Ich stehe vor dem Haus und spiegle mich im leeren Schaufenster. Konnte man hier damals in die Schneiderei hineinschauen? Wer in meiner Wohnung gelebt hat, bevor ich eingezogen bin? Die Vormieter mit den zwei Hunden, die aufs Land gezogen sind. Und davor? Und davor? Und davor?
Warum ich fast immer nur von dem einen Opa spreche?
Weil der andere starb, als ich drei Monate alt war.
Ob ich weiß, was er im Krieg gemacht hat? Nein.
Ob meine Mutter das weiß? Nein.
Ruth und Thea. Elf Jahre. Zwölf Jahre. Wie viele Tage zwischen ihrer Deportation und der Ermordung lagen? Drei. Wie weit ihre Mutter von ihnen entfernt war, als sie starben? Ungefähr 632 Kilometer und eine Zeitzone.
An meinem Handy ploppen in diesen Tagen viele Eilmeldungen auf. Parteien wurden gewählt. Von wenigen, von vielen, von zu vielen. Eine Eilmeldung sticht heraus und macht mich wach. Die Süddeutsche Zeitung meldet am 30. September 2021 um 10:51 Uhr:
96-jährige frühere KZ-Sekretärin nach Flucht gefasst
Irmgard F. ist wegen Beihilfe zum Mord in 11 000 Fällen angeklagt. Doch sie erschien nicht zum ersten Prozesstag, sondern versuchte, mit einem Taxi in Richtung Hamburg zu flüchten.
Weiter heißt es:
Die vor dem Landgericht Itzehoe angeklagte ehemalige Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof ist inzwischen gefasst worden. Ein Arzt prüfe nun ihre Hafttauglichkeit, teilte Landgerichtssprecherin Frederike Milhoffer mit. Die 96-jährige Irmgard F. war am Morgen nicht zu einem Gerichtsprozess erschienen, in dem sie wegen Beihilfe zum Mord in 11 000 Fällen angeklagt ist. F. habe das Altenheim in Quickborn im Kreis Pinneberg mit einem Taxi in Richtung Hamburg verlassen, hieß es.
Weiter heißt es:
Der Angeklagten wird vorgeworfen, als Stenotypistin und Schreibkraft in der Lagerkommandantur des KZ Stutthof zwischen Juni 1943 und April 1945 den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von Gefangenen Hilfe geleistet zu haben. Im KZ Stutthof und seinen Nebenlagern nahe Danzig sowie auf den sogenannten Todesmärschen zu Kriegsende starben nach Angaben der für die Aufklärung von NS-Verbrechen zuständigen Zentralstelle in Ludwigsburg etwa 65 000 Menschen.
Ich rechne aus, wann Irmgard F. geboren sein müsste: 1925. (Mein Opa, denke ich, auch.) Ich rechne die Anzahl der Jahre aus, die zwischen 1945 und 2021 vergangen sind: sechsundsiebzig.
Der NDR schreibt:
Es ist das erste Mal, dass einer zivilen Angestellten eines Vernichtungslagers der Nationalsozialisten der Prozess gemacht wird. Irmgard F. war damals 18, später 19 Jahre alt.
Ich schaue einen Video-Beitrag des NDR. Ich erfahre, dass es erst seit ein paar Jahren möglich ist, ‚zivile Angestellte eines Vernichtungslagers‘ anzuklagen.
Ein auf der Straße befragter Bürger in Itzehoe sagt:
Ein Satz taucht in meinem Kopf auf: Mord verjährt nicht.
Strafgesetzbuch. § 78 Verjährungsfrist
Absatz (2): Verbrechen nach § 211 (Mord) verjähren nicht.
Und ich frage mich: Was heißt Mord verjährt nicht zum Beispiel auf Hebräisch? Wie sagt man Mord verjährt nicht auf Jiddisch? Auf Polnisch?
Ich lebe in einer Zeit, in der es noch über 90-Jährige gibt, die man anklagen, schuldig sprechen und verurteilen kann. Ich lebe in einer Zeit, in der es noch ein paar wenige über 90-Jährige gibt, die wahrscheinlich ihr Leben lang darauf gewartet haben, dass andere angeklagt, schuldig gesprochen und verurteilt werden.
Ich lebe in einem Land, das sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet hat. Ich lebe in einem Land, in dem Mord nicht verjährt. Ich lebe in einem Land, in dem rund 1,6 Millionen Menschen an Demenz erkrankt sind.
Ich schreibe in der Sprache, in der der Tod von sechs Millionen Jüdinnen und Juden angeordnet und registriert wurde.
Ich wohne in einer Stadt, in der 9115 Stolpersteine verlegt wurden.
Ich wohne in einer Stadt, in der weiterhin Stolpersteine verlegt werden. In der Geschichten freigelegt werden. In der Opfer benannt werden, um ihnen zu gedenken. Sie werden Häusern zugeordnet, Straßen und Hausnummern. 10 x 10 cm große Betonquader werden gegossen, mit Messing versehen und in den Bürgersteig eingelassen.
Ich stelle mir vor, wie sich der Boden dieser Stadt allmählich verändert. Wie die Gehwege nach und nach zu Gehwegen aus Messing werden. Wie wir daran scheitern, eine unbefleckte Stelle zu betreten. Wie wir den Blick öfters senken. Wie wir uns nach und nach anders durch die Straßen bewegen. Ruhiger. Mit anderen Schritten. Und anderer Aufmerksamkeit. Wie wir wach werden. Und wach bleiben. Alle.
Ich denke an: Abraham Fuss. Ruth Fuss. Thea Fuss. Und Hildegard Fuss.
[1] Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands e. V.
Kathrin Bach im Gespräch mit Boris Schumatsky